European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00073.22G.0530.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird wie folgt abgeändert:
„1. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 7.236,93 EUR samt 4 % Zinsen seit 10. 8. 2020 binnen 14 Tagen zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei für deren künftige Dauer- und Spätfolgen aufgrund des Unfalls vom 13. 6. 2020 in Bregenz im Ausmaß von 50 % haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der zum Unfallszeitpunkt für das Fahrzeug mit dem amtlichen deutschen Kennzeichen * vereinbarten Versicherungssumme begrenzt ist.
3. Das Zahlungsmehrbegehren von 22.693,07 EUR samt 4 % Zinsen seit 10. 8. 2020 und das Feststellungsmehrbegehren werden abgewiesen.
4. Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 3.212,05 EUR bestimmten anteiligen Prozesskosten (darin enthalten 704,54 EUR an USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit 4.473,46 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten 1.822,59 EUR Barauslagen und 441,81 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 13. 6. 2020 ereignete sich in der Montfortstraße in Bregenz ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger mit seinem Motorrad und der Erstbeklagte als Lenker und Halter eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten BMW mit deutschem Kennzeichen beteiligt waren. In Fahrtrichtung der Beteiligten weist die Montfortstraße zwei Fahrstreifen auf. Der Erstbeklagte hielt den BMW auf dem linken Fahrstreifen vor einer roten Ampel an, auf dem rechten Fahrstreifen befand sich ein weiterer PKW. Der Kläger schlängelte sich mit dem Motorrad zwischen diesen Fahrzeugen durch und hielt sein Fahrzeug entweder auf dem rechten Fahrstreifen oder „in der Mitte der beiden geradeaus führenden Fahrstreifen“ vor der roten Ampel an. Als die Ampel auf grün schaltete, fuhren der Kläger und der Erstbeklagte los. Der Erstbeklagte mit dem BMWbeschleunigte zunächst langsamer als der Kläger mit dem Motorrad, schloss aber nach etwa 30 Metern auf und wollte am Motorrad „vorbeifahren“. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung eines der Unfallbeteiligten steht nicht fest. Es kam in der Folge zum Kontakt zwischen dem BMW und dem „linken hinteren Bereich“ des Motorrads, was letztlich – nach dem Kontakt mit einem anderen Fahrzeug – zum Sturz des Klägers führte, der dabei schwer verletzt wurde. Nicht festgestellt werden kann, wo – bezogen auf die Fahrbahn – der erste Kontakt zwischen dem BMW und dem Motorrad stattfand und welche Fahrlinien die Unfallbeteiligten vor diesem ersten Kontakt einhielten.
[2] DerKläger begehrt die Zahlung von 29.930 EUR an Schadenersatz (in erster Linie Schmerzengeld und Kosten für Heilbehandlung, Pflege sowie Haushaltshilfe) und die Feststellung der Haftung der Beklagten für unfallkausale Spät‑ und Dauerfolgen. Das Alleinverschulden treffe den auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Erstbeklagten, der einen „Schwenker“ nach rechts gemacht und dabei das auf dem rechten Fahrstreifen fahrende Motorrad des Klägers touchiert habe. Der Erstbeklagte sei somit unaufmerksam gefahren und habe einen unzulässigen Fahrstreifenwechsel vorgenommen.
[3] Die Beklagtenwenden das Alleinverschulden des Klägers ein. Der Erstbeklagte habe den linken Fahrstreifen nicht verlassen. Der Kläger habe versucht, zwischen dem BMW des Erstbeklagten und einem auf dem rechten Fahrstreifen befindlichen Fahrzeug „durchzufahren“ und habe dabei mit dem linken Arm oder dem Lenker des Motorrads den Seitenspiegel des BMW touchiert. Der Kläger habe damit den Erstbeklagten unter Verstoß gegen § 15 Abs 1 und 4 StVO rechts und ohne ausreichenden Seitenabstand überholt. Der Kläger sei auch zu weit links auf seinem Fahrstreifen gefahren und habe einen Verstoß gegen § 7 StVO zu verantworten.
[4] Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren mit 8.526,93 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Hälfte statt, wobei es die Haftung der Zweitbeklagten mit der vertraglichen Versicherungssumme beschränkte, und wies das Zahlungsmehrbegehren von 21.403,07 EUR sA sowie das Feststellungsmehrbegehren ab. Die teilweise Stattgebung des Feststellungsbegehrens erwuchs ebenso wie ein Zuspruch von 6.716,93 EUR sA und eine Abweisung von 12.876,14 EUR sA in Rechtskraft. Das Erstgericht ging in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden anzulasten und der Schaden daher in Anwendung des § 11 EKHG 1 : 1 zu teilen sei.
[5] Das Berufungsgericht gab den Berufungen sämtlicher Streitteile teilweise Folge; es gab dem Zahlungsbegehren mit 14.473,85 EUR sA sowie dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt, wobei es die Haftung der Zweitbeklagten mit der vertraglichen Versicherungssumme beschränkte, und wies ein Zahlungsmehrbegehren von 15.456,15 EUR sA ab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und ließ die ordentliche Revision zu. Das Berufungsgericht ging vom Alleinverschulden des Erstbeklagten aus. Dieser habe sich dem Motorrad von hinten mit höherer Geschwindigkeit genähert und habe es beim beabsichtigten „Vorbeifahren“ (aus Sicht des Klägers) links hinten kontaktiert. Damit habe der Kläger den objektiven Tatbestand der Einhaltung eines zu geringen Seitenabstands zum Motorrad und damit eine Schutzgesetzverletzung erwiesen. Die Beklagten hätten hingegen den ihnen obliegenden Nachweis fehlenden Verschuldens an der Schutzgesetzverletzung nicht erbracht. Dem Kläger gebühre ein Schmerzengeld in Höhe von 7.500 EUR.
[6] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage vorliege, ob die Kollision des nachfolgenden schnelleren und überholenden (oder nebeneinander fahrenden) Fahrzeugs mit einem vorausfahrenden Fahrzeug bereits eine objektive Schutzgesetzverletzung indiziere.
[7] Gegen die Stattgebung des Zahlungsbegehrens im Umfang von 7.236,93 EUR sA und gegen die Stattgebung des Feststellungsbegehrens im Umfang der Hälfte richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Urteil insoweit im klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.
[8] Der Kläger beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
[9] Die Revisionist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie ist im Sinn des Abänderungsantrags auch berechtigt.
[10] Die Beklagten argumentieren, dass sich aus den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen kein Fehlverhalten des Erstbeklagten ableiten lasse; insbesondere sei der Schluss des Berufungsgerichts auf die Einhaltung eines zu geringen Seitenabstands nicht von den Feststellungen gedeckt.
Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:
Rechtliche Beurteilung
[11] 1. Nach Art 3 HStVÜ ist der Verkehrsunfall nach österreichischem Recht zu beurteilen.
[12] 2. Dass dem Kläger kein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls nachweisbar ist, ist im Revisionsverfahren nicht strittig.
[13] 3. Die Ansicht des Berufungsgerichts, dass sich aus den Feststellungen des Erstgerichts ein Verstoß des Erstbeklagten gegen Bestimmungen der StVO ableiten ließe, kann aus folgenden Erwägungen nicht geteilt werden:
[14] 3.1. Wird ein Schadenersatzanspruch auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützt, dann hat der Geschädigte den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes als solche zu beweisen. Für Letzteres reicht der Nachweis aus, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Der Geschädigte hat demnach den vom Schutzgesetz erfassten Tatbestand zu beweisen. Den Nachweis, dass ihn an der Übertretung des Schutzgesetzes kein Verschulden trifft, hat in der Folge der Schädiger zu erbringen (vgl RS0112234 [insb T2]).
[15] 3.2. Der Nachweis, dass der Erstbeklagte den Tatbestand insbesondere des § 15 (Abs 4) StVO objektiv erfüllt hat, ist dem Kläger allerdings nicht gelungen. Aufgrund der non-liquet-Feststellungen zu den Fahrlinien der Unfallbeteiligten vor dem Unfall und der Stelle des Erstkontakts (bezogen auf die Fahrbahn) steht bloß fest, dass es zu einer Streifkollision zwischen den Unfallbeteiligten kam, die in die gleiche Richtung fuhren. Es steht hingegen nicht fest, ob sich der Erstkontakt im Bereich des (vom Erstbeklagten befahrenen) linken oder des rechten Fahrstreifens ereignete. Ebensowenig steht fest, welchen Fahrstreifen der Kläger vor dem Unfall mit dem Motorrad benutzte und ob er diesen nach dem Losfahren beim Umschalten der Ampel wechselte. Damit bleibt aber auf Tatsachenebene unklar, ob der Lenker des BMW beim Nebeneinanderfahren (vgl dazu 2 Ob 80/11w = RS0126990) einen zu geringen Seitenabstand zum Motorrad einhielt oder ob der Lenker des Motorrads in den Fahrraum des BMW eindrang, indem er einen Fahrstreifenwechsel vornahm. Für die Annahme eines Verstoßes des Erstbeklagten gegen Vorschriften der StVO reichen die Feststellungen damit nicht aus (vgl bereits 8 Ob 4/83 ZVR 1984/244, 242 zu einem ähnlichen Sachverhalt).
[16] 3.3. Die vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen, die Fälle eines Verstoßes gegen Vorrangbestimmungen (§ 19 StVO) betreffen, sind mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar.
[17] 4. Da keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden am Verkehrsunfall nachgewiesen werden konnte und auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen außergewöhnlicher Betriebsgefahr bestehen, stehen einander bei der Abwägung nach § 11 EKHG die (gewöhnliche) Betriebsgefahr des BMW und des Motorrads gegenüber. In Bezug auf das Verhältnis zwischen einem PKW und einem einspurigen Fahrzeug kann weder allgemein gesagt werden, dass die Betriebsgefahr des PKW stets höher wäre als jene des einspurigen Fahrzeugs, noch umgekehrt, dass die Betriebsgefahr eines Motorfahrrads wegen seiner Labilität stets größer sei als jene eines PKW. Es ist vielmehr jeweils auf die im konkreten Fall die Betriebsgefahr erhöhenden Umstände Bedacht zu nehmen (2 Ob 25/21x Rz 13 mwN; RS0058619). Solche die Betriebsgefahr eines der Unfallbeteiligten konkret erhöhenden Umstände sind hier nicht hervorgekommen, sodass es zu einer Schadensteilung von 1 : 1 zu kommen hat (vgl 2 Ob 39/94).
[18] 5. Da die Höhe der einzelnen Schadenspositionen im Revisionsverfahren nicht (mehr) strittig ist, war der Revision zur Gänze Folge zu geben. Im Hinblick auf das Feststellungsbegehren kommt die auch von Amts wegen vorzunehmende Einfügung einer Haftungsbeschränkung nach § 15 EKHG (vgl RS0039011 [insb T5]) wegen bereits eingetretener Teilrechtskraft nicht in Betracht (vgl 2 Ob 63/11w Punkt I.4.).
[19] 6. Diese Abänderung macht insgesamt eine Neufassung der Entscheidung über die Verfahrenskosten erforderlich.
[20] Die Kostenentscheidung beruht in erster Instanz auf § 43 Abs 1 iVm § 43 Abs 2 2. Fall ZPO, im Rechtsmittelverfahren auf § 41 und § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO.
[21] Der Kläger erhielt aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens und der Anwendung des § 273 ZPO nur einen Teil des von ihm eingeklagten Schmerzengeldes sowie der pauschalen Unkosten und der Kosten für Geschenke ersetzt, wobei in diesen Punkten keine offenbare Überklagung vorliegt. Im Hinblick auf die für Haushaltshilfe und Pflege eingeklagten Positionen liegt hingegen eine kostenschädliche offenbare Überklagung vor. Insgesamt war (unter Berücksichtigung des Feststellungsbegehrens) ein fiktiver Streitwert von 26.340 EUR zu bilden. Ausgehend davon obsiegte der Kläger zu rund 35 %, sodass er 35 % der von ihm alleine getragenen Barauslagen (Pauschalgebühr auf Basis des fiktiven Streitwerts; Sachverständigen‑ und Zeugengebühren) ersetzt bekommt, den Beklagten aber 30 % ihrer Vertretungskosten (auf Basis des fiktiven Streitwerts) und 65 % der von den Beklagten alleine getragenen Zeugengebühren zu ersetzen hat. Einwendungen gegen die Kostennote der Beklagten iSd § 54 Abs 1a ZPO hat der Kläger nicht erhoben, von Amts wegen aufzugreifende offensichtliche Unrichtigkeiten liegen nicht vor. Im Hinblick auf die vom Kläger verzeichneten Barauslagen war allerdings von Amts wegen zu berücksichtigen, dass Teile der verzeichneten Kostenvorschüsse wieder zurück überwiesen wurden. Saldiert ergibt sich der aus dem Spruch ersichtliche Kostenersatzbetrag.
[22] Mit ihrer Berufung drangen die Beklagten zu rund 85 % durch, die Berufung des Klägers blieb letztlich erfolglos. Im Revisionsverfahren obsiegten die Beklagten zur Gänze. Die Beklagten erhalten daher die vollen Kosten ihrer Revision und ihrer Berufungsbeantwortung sowie 70 % der Vertretungskosten und 85 % der Pauschalgebühr für ihre Berufung ersetzt.
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