OGH 8ObA95/21k

OGH8ObA95/21k22.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei S* S*, vertreten durch Dr. Gerhard Hiebler & Dr. Gerd Grebenjak, Rechtsanwälte in Leoben, gegen die beklagte Partei B* W*, vertreten durch Dr. Martin Holzer, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, wegen 1.151,70 EUR brutto (Revisionsinteresse 825,55 EUR brutto) sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. November 2019, GZ 6 Ra 73/19f‑21, mit dem das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. September 2019, GZ 25 Cga 46/19z‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00095.21K.0222.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

I. Das unter AZ 8 ObA 8/20i unterbrochene Verfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

„Die Klagsforderung besteht mit 906,08 EUR brutto zu Recht.

Die eingewendete Gegenforderung von 574,48 EUR besteht nicht zu Recht.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 906,08 EUR brutto samt 8,58 % Zinsen ab 27. April 2019 zu bezahlen.

Das Mehrbegehren von 245,09 EUR brutto samt Anhang wird abgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, binnen 14 Tagen der Klägerin die mit 45,03 EUR bestimmten Verfahrenskosten und der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark den mit 512 EUR bestimmten Aufwandersatz zu bezahlen.“

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark den mit 204 EUR bestimmten Aufwandersatz für das Berufungsverfahren zu leisten und der klagenden Partei die mit 225 EUR (darin 37,50 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin war bei der Beklagten vom 4. 5. 2018 bis 26. 4. 2019 als Handelsangestellte mit einem vereinbarten Bruttogehalt von 903,82 EUR teilzeitbeschäftigt (zwei Arbeitstage pro Woche). Das Dienstverhältnis unterlag dem Kollektivvertrag für Handelsangestellte Österreichs. Die Klägerin hat im Beschäftigungszeitraum drei Urlaubstage verbraucht. Das Dienstverhältnis wurde durch unberechtigten vorzeitigen Austritt der Klägerin beendet. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur mehr der Anspruch der Klägerin auf Ersatzleistung für restliche 6,78 Urlaubstage, die sie nicht vollständig habe konsumieren können.

[2] Die Vorinstanzen wiesen das Begehren auf Urlaubsersatzleistung ab. Nach § 10 Abs 2 UrlG bestehe für das laufende Urlaubsjahr bei einem ungerechtfertigten vorzeitigen Austritt kein derartiger Anspruch.

[3] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil der Frage der Vereinbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG mit dem Unionsrecht eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zukomme.

[4] Die Revision der Klägerin strebt die vollständige Klagsstattgebung an. Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts zu bestätigen.

[5] 1. Der Senat hat das Revisionsverfahren zu 8 ObA 80/21i mit Beschluss vom 27. 5. 2020 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das zur AZ 9 ObA 137/19s des Obersten Gerichtshofs am 29. 4. 2020 gestellte Vorabentscheidungsersuchen unterbrochen.

[6] Der EuGH hat mit Urteil vom 25. 11. 2021 in der Rechtssache C‑233/20 über dieses Vorabentscheidungsersuchen entschieden. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Rechtliche Beurteilung

[7] 2. Die Revision der klagenden Partei ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

[8] 2.1. Nach § 10 UrlG gebührt dem Arbeitnehmer für das Urlaubsjahr, in dem das Arbeitsverhältnis endet, zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Ersatzleistung als Abgeltung für den der Dauer der Dienstzeit in diesem Urlaubsjahr im Verhältnis zum gesamten Urlaubsjahr entsprechenden Urlaub. Nach Abs 2 dieser Bestimmung gebührt eine Ersatzleistung nicht, wenn der Arbeitnehmer ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt.

[9] 2.2. Der EuGH hat mit dem Urteil vom 25. 11. 2021 in der Rechtssache C‑233/20 die zur Vereinbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG mit dem Unionsrecht gestellten Vorlagefragen wie folgt beantwortet:

„1. Art 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in Verbindung mit Art 31 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

2. Der nationale Richter braucht nicht zu prüfen, ob der Verbrauch der Urlaubstage, auf die der Arbeitnehmer Anspruch hatte, für diesen unmöglich war.“

[10] In seiner Begründung führte der EuGH dazu zusammengefasst aus: Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88/EG ausdrücklich gezogen werden (Rn 24). Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88/EG spiegelt das in Art 31 Abs 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub wider und konkretisiert es (Rn 25). Deshalb darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (Rn 26). Außerdem ergibt sich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88/EG und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (Rn 27). Insoweit ist auf den Zweck des durch Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88/EG jedem Arbeitnehmer eingeräumten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub hinzuweisen, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dieser Zweck, durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat (Rn 28). Außerdem stellt der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des als unionssozialrechtliches Grundrecht verankerten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub dar. Dieses Grundrecht umfasst somit auch einen Anspruch auf Bezahlung und – als eng mit diesem Anspruch auf „bezahlten“ Jahresurlaub verbundenen Anspruch – den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub (Rn 29). Wenn das Arbeitsverhältnis endet, ist es nicht mehr möglich, tatsächlich bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Um zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, verwehrt wird, sieht Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88/EG vor, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat (Rn 30). Ferner ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass Art 7 Abs 2 RL 2003/88/EG für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung aufstellt als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (Rn 31). Somit ist der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Hinblick auf den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung nach Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88/EG nicht maßgeblich (Rn 32).

[11] 2.3. Im vorliegenden Verfahren hat die Klägerin aufgrund ihrer im Bezugszeitraum geleisteten Arbeit einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erworben, von dem ein Teil bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbraucht worden war. Die finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage, die sie vor dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses nicht verbrauchen konnte, darf ihr nicht allein deshalb verweigert werden, weil sie ihr Arbeitsverhältnis von sich aus fristlos beendet hat (Rn 33 f).

[12] Die Regelung des § 10 Abs 2 UrlG ist insoweit einer unionsrechtskonformen Auslegung im Einklang mit Art 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art 31 Abs 2 der GRC nicht zugänglich. Eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist unter diesen Umständen nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen (9 ObA 147/21i unter Verweis auf RS0109951 [T3, T6, T7]; Mayr/Erler, UrlG³ § 10 UrlG Rz 7). Das mit einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem früheren privaten Arbeitgeber befasste nationale Gericht hat diese nationale Regelung dann insoweit nicht zu berücksichtigen (9 ObA 147/21i; 8 ObA 62/18b [Pkt 3] unter Hinweis auf EuGH C‑569/16 und C‑570/16 , Stadt Wuppertal/Bauer, Willmeroth/Broßonn; EuGH 6. 11. 2018 C‑684/16 , Max‑Planck‑Gesellschaft, Rn 81).

[13] 3. Auf dieser Grundlage hat die unberechtigt vorzeitig aus dem Arbeitsverhältnis ausgetretene Klägerin grundsätzlich einen Anspruch auf Abgeltung ihres zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbrauchten Urlaubsrests gemäß § 10 Abs 1 UrlG.

[14] Art 7 Abs 2 der Richtlinie 2003/88/EG räumt dem Arbeitnehmer im Unterschied zum UrlG einen Mindesturlaubsanspruch von nur vier Wochen ein. Die innerstaatliche Rechtslage geht daher über die unionsrechtlich erforderlichen Mindestansprüche hinaus und ist insoweit günstiger als das Unionsrecht. Um den unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH (C‑233/20 ) zur Auslegung des Art 7 Abs 1 der Richtlinie 2003/88 im Anlassfall gerecht zu werden und dafür Sorge zu tragen, dass die Klägerin für den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses offenen Resturlaub eine finanzielle Vergütung erhält, genügt es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, § 10 Abs 2 UrlG (nur) insoweit unangewendet zu lassen, als die Klägerin eine Urlaubsersatzleistung auf Grundlage des unionsrechtlich garantierten Mindesturlaubs von vier Wochen erhält (9 ObA 147/21i mwN).

[15] Die gebührende Urlaubsersatzleistung errechnet sich nach der in der Klage insoweit unstrittig verwendeten Berechnungsmethode (2 Arbeitstage pro Woche), einer Beschäftigungsdauer von 358 Tagen und bei einem Mindesturlaub von vier Wochen wie folgt:

20 : 5 x 2 : 365 x 358 = 7,84 

7,84 – 3 = 4,84 AT offen.

903,82 EUR x 14 : 12 : 8,8 = 119,82 EUR

119,82 x 4,84 = 579,93 EUR.

[16] Der Revision war daher teilweise Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen spruchgemäß abzuändern.

[17] Aufgrund dieser Abänderung war auch die Kostenentscheidung in Anwendung der § 2 ASGG, § 43 und 50 ZPO iVm § 58a ASGG neu zu fassen.

[18] In erster Instanz hat die Klägerin bis zur Klagseinschränkung infolge Teilzahlung mit rund 86 % und im weiteren Verfahrensabschnitt mit rund 79 % ihres Begehrens obsiegt. In Anwendung des § 58a Abs 3 ASGG sind ihrer Vertretung dafür gerundet 72 % des ersten Teils des Aufwandersatzes und 58 % des Aufwandersatzes für den zweiten Verfahrensabschnitt zuzuerkennen, weiters gebühren der Klägerin 79 % der (im zweiten Verfahrensabschnitt angefallenen) Reisekosten.

[19] Im Rechtsmittelverfahren ist die Klägerin mit rund 70 % des Interesses durchgedrungen, sodass für das Berufungsverfahren 40 % des Aufwandersatzes und für die Revision 40 % der anwaltlichen Vertretungskosten gebühren. Die verzeichneten Kosten waren um die nicht angefallene Pauschalgebühr zu kürzen.

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