OGH 5Nc30/21p

OGH5Nc30/21p29.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj J*****, geboren am *****, derzeit in Pflege und Erziehung der Stadt Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger, in der *****, AZ 26 Ps 67/21k des Bezirksgerichts Liesing, wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0050NC00030.21P.1029.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 24. 8. 2021, GZ 26 Ps 67/21k‑218, gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Perg wird genehmigt.

 

Begründung:

[1] Die Obsorge für die Minderjährige wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 7. 12. 2010 der Mutter entzogen und der Kinder‑ und Jugendhilfe Wien übertragen. Seit 2011 war die Minderjährige in einer Pflegefamilie im 22. Bezirk untergebracht. Aufgrund des Beschlusses vom 4. 9. 2013 (ON 104) wurde die Zuständigkeit für die Pflegschaftssache dementsprechend dem Bezirksgericht Donaustadt übertragen.

[2] Nachdem die Minderjährige im November 2018 nach Überprüfung ihres Pflegebruders aus der Pflegefamilie genommen worden war, kam sie in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft im 23. Bezirk unter. Aus diesem Grund übertrug das Bezirksgericht Donaustadt dem Bezirksgericht Liesing am 16. 7. 2019 neuerlich die Zuständigkeit für diese Pflegschaftssache (ON 204).

[3] Am 7. 6. 2021 stellten beide Eltern einen Obsorgeantrag betreffend die Minderjährige, der Kinder- und Jugendhilfeträger sprach sich dagegen aus. Am 12. 8. 2021 wurde der Wohnsitz der Minderjährigen dauerhaft nach ***** in eine Wohngemeinschaft verlegt, weil es hier gegenüber zu gefilmten und im Internet verbreiteten Aufnahmen sexueller Übergriffe durch mehrere Täter in Wien gekommen war. Bewusst wählte der Kinder- und Jugendhilfeträger daher eine Wohngemeinschaft weit ab vom bisherigen schulischen Bereich der Minderjährigen aus. Ihre Eltern und die – persönliche Bezugsperson darstellende – väterliche Großmutter leben noch in Wien. Laufende Kontakte sind – nach einer Eingewöhnungsphase – geplant.

[4] Das Bezirksgericht Liesing übertrug mit Beschluss vom 24. 8. 2021 die Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 und Abs 2 JN an das Bezirksgericht Perg mit dem Hinweis auf den neuen Wohnsitz des Kindes in *****. Das Verfahren sei im Wesentlichen bisher vor dem Bezirksgericht Donaustadt geführt worden.

[5] Das Bezirksgericht Perg lehnte die Übertragung der Zuständigkeit mit der Begründung ab, diese liege im Interesse der Minderjährigen, die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes werde nicht verbessert, zumal sämtliche weiteren Familienangehörigen der Minderjährigen in Wien leben und auch die zuständige Jugendwohlfahrtsbehörde dort situiert sei. Überdies halte sich die Minderjährige regelmäßig bei ihrer Mutter bzw ihren väterlichen Großeltern in Wien auf.

Rechtliche Beurteilung

[6] Die Übertragung der Zuständigkeit ist gerechtfertigt.

[7] 1.1 Gemäß § 111 Abs 1 JN kann, wenn dies im Interesse eines Minderjährigen oder sonst Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird, das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht von Amts wegen oder auf Antrag seine Zuständigkeit ganz oder zum Teil an ein anderes Gericht übertragen. Ausschlaggebendes Kriterium der Übertragung der Zuständigkeit ist stets das Kindeswohl (vgl RIS‑Justiz RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenem und Gericht von wesentlicher Bedeutung, sodass im Allgemeinen das Gericht am besten geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder (gewöhnlichen) Aufenthalt hat (RS0047074 [T18]).

[8] 1.2 Dass die Minderjährige nun – auf unabsehbare Dauer – in einer Wohngemeinschaft im Sprengel des Bezirksgerichts Perg untergebracht ist, ist aktenkundig. Weshalb dieses Gericht daher den erforderlichen pflegschaftsgerichtlichen Schutz der Minderjährigen nicht besser handhaben könnte als das gut 200 km entfernte Bezirksgericht Liesing, ist nicht zu erkennen. Es ist nämlich kein Hinderungsgrund für die Übertragung der Pflegschaft, dass sich nur das Kind im Sprengel des Bezirksgerichts Perg aufhält, weil gerade dieser Umstand zentrale Bedeutung hat. Ebenso wenig ist es entscheidend, dass sich kein weiterer Verfahrensbeteiligter im Sprengel des übertragenen Gerichts befindet und auch eine ungewisse Aufenthaltsdauer des Kindes in diesem Sprengel stellt kein Übertragungshindernis dar, weil ungewiss in der Zukunft vielleicht eintretende Änderungen der Verhältnisse für den Übertragungszeitpunkt keine Wirksamkeit entfalten können (RS0047300 [T13]).

[9] 2.1 Nach ständiger Rechtsprechung stehen auch „offene Anträge“ nicht grundsätzlich einer Zuständigkeitsübertragung entgegen (RS0047032); vielmehr hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob die Entscheidung über solche Anträge durch das bisherige Gericht zweckmäßiger ist (RS0046929 [T10]). Zu berücksichtigen sind offene Anträge dann, wenn zu deren Erledigung das bisher zuständige Gericht effizienter geeignet ist, also etwa dann, wenn es bereits unmittelbar Beweise aufgenommen, vielleicht gar schon die Ermittlungen abgeschlossen hat, nicht aber, wenn ein Beweisverfahren noch gar nicht begonnen wurde oder sich die Ermittlungen in einem sehr frühen Stadium befinden (6 Nc 21/20w mwN).

[10] 2.2 Hier wurde das Pflegschaftsverfahren tatsächlich jahrelang vom Bezirksgericht Donaustadt geführt und erst 2019 an das Bezirksgericht Liesing abgetreten. Dort wurde lediglich schriftlich ein – in der Folge zurückgezogener – Antrag auf Rückübertragung der Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung durch den Kinder- und Jugendhilfeträger behandelt. Im Bezug auf die Obsorgeanträge der Eltern der Minderjährigen gab es – abgesehen von einer Aufforderung zur Äußerung an den Kinder- und Jugendhilfeträger – weder Verfahrensschritte noch Beweisaufnahmen. Ein persönlicher Kontakt der Richterin des Bezirksgerichts Liesing mit der Minderjährigen und/oder ihren Bezugspersonen fand nicht statt. Die offenen Obsorgeanträge stehen im konkreten Fall daher einer Übertragung der Zuständigkeit nicht im Weg.

[11] 3. Da der Lebensmittelpunkt der Minderjährigen derzeit – unabhängig von angedachten Besuchen ihrer Mutter bzw der väterlichen Großeltern in Wien – im Sprengel des Bezirksgerichts Perg liegt, dient die Übertragung der Zuständigkeit an dieses Gericht dem Kindeswohl und war daher zu genehmigen.

Stichworte