OGH 6Ob168/21f

OGH6Ob168/21f20.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden und die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Robert Kerschbaumer, Rechtsanwalt in Lienz, gegen die beklagten Parteien 1. K*, vertreten durch Dr. Christoph Rogler, Rechtsanwalt in Steyr, 2. F*, wegen Widerrufs, Feststellung und Zahlung von 2.600 EUR sA, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 23. August 2021, GZ 4 R 112/21z‑10, womit der Beschluss des Landesgerichts Steyr vom 15. Juli 2021, GZ 4 Cg 50/21t‑3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133242

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger begehrt von jedem Beklagten den Widerruf der Tatsachenbehauptung „Bezirksinspektor M* eskalierte bei der Demo in Innsbruck am 20. 2. 2021. Ein 82‑jähriger unschuldiger Mann wurde zu Boden gerissen, verhaftet und stundenlang verhört. Bezirksinspektor M* ist schuldig“ als unwahr gegenüber mehreren bestimmt bezeichneten Personen und darüber hinaus vom Erstbeklagten Schadenersatz. Die Beklagten seien Medieninhaber eines Facebook‑Profils. Beide Beklagten hätten absichtlich auf ihrem Facebook‑Profil bezogen auf den Polizeieinsatz bei der Demonstration vom 20. 2. 2021 rufschädigende Tatsachenbehauptungen zum Nachteil des Klägers veröffentlicht. Der gegen den Kläger von den Beklagten losgetretene Shitstorm habe gewaltige Ausmaße. Der Beitrag sei auf mehr als 1.500 Facebook‑Profilen geteilt worden.

[2] Das Erstgericht wies die Klage hinsichtlich des Zweitbeklagten a limine zurück. Dessen Wohnsitz befinde sich nicht im Sprengel des angerufenen Gerichts. Der Klage lasse sich auch nicht entnehmen, dass dieses Gericht aus anderen Gründen zuständig wäre.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO liege vor, wenn die Streitgenossen in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen Grund oder solidarisch berechtigt oder verpflichtet seien. Auch wenn sich aus dem Klagsvorbringen nicht ausdrücklich die Geltendmachung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ergebe, könne bei großzügiger Betrachtungsweise zugrunde gelegt werden, dass der Kläger von einer gemeinschaftlichen bzw solidarischen Haftung der Beklagten ausgehe. Allerdings begehre der Kläger von beiden Beklagten nur den Widerruf, in eventu die Bekanntgabe von Daten. Zwar sei der Widerruf ein auf eine Art Naturalrestitution gerichteter Schadenersatzanspruch, mit dem die schon eingetretenen Folgen der Rufschädigung, nämlich die bei Dritten über den Verletzten entstandene abträgliche Meinung, beseitigt werden sollen; allerdings sei eine Solidarhaftung für einen Widerruf kaum denkbar bzw auch nicht gewollt. Daher lägen die Voraussetzungen einer materiellen Streitgenossenschaft im Hinblick auf den begehrten Widerruf nicht vor.

[4] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers ist zulässig; er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[5] 1. Der Revisionsrekurs ist nicht nach § 528 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig, weil der Ausnahmefall der Zurückweisung einer Klage, mithin die gänzliche Verweigerung der Gewährung von Rechtsschutz, vorliegt (vgl Musger in Fasching/Konecny 3 § 528 ZPO Rz 55 ff).

[6] 2. Nach § 93 Abs 1 JN können mehrere Personen, welche ihren allgemeinen Gerichtsstand vor verschiedenen Gerichten haben, als Streitgenossen, sofern nicht für den Rechtsstreit ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand begründet ist, vor jedem inländischen Gericht geklagt werden, bei welchem einer der Streitgenossen oder, wenn sich unter ihnen Haupt‑ und Nebenverpflichtete befinden, einer der Hauptverpflichteten seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, es sei denn, dass das Gericht auch durch Vereinbarung der Parteien nicht zuständig gemacht werden kann.

[7] Obwohl § 93 Abs 1 JN allgemein von „Streitgenossen“ spricht, sind damit nach herrschender Auffassung nur jene Streitgenossen gemeint, die aufgrund ihrer gemeinsamen (Mitberechtigung oder) Mitverpflichtung aus demselben tatsächlichen Grund oder wegen einer Rechtsgemeinschaft in Ansehung des Streitgegenstands oder wegen einer solidarischen (Berechtigung oder) Verpflichtung gemeinsam geklagt werden können, bei denen es sich somit um materielle Streitgenossen nach § 11 Z 1 ZPO handelt (Simotta in Fasching/Konecny 3 § 93 JN Rz 1 mwN).

[8] 3.1. Nach § 11 ZPO können außer den in anderen Gesetzen besonders bezeichneten Fällen mehrere Personen gemeinschaftlich klagen oder geklagt werden (Streitgenossen), (Z 1) wenn sie in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen Grund oder solidarisch berechtigt oder verpflichtet sind, sowie (Z 2) wenn gleichartige, auf einem im Wesentlichen gleichartigen tatsächlichen Grunde beruhende Ansprüche oder Verpflichtungen den Gegenstand des Rechtsstreits bilden, und zugleich die Zuständigkeit des Gerichts hinsichtlich jedes einzelnen Beklagten begründet ist.

[9] Während somit die Streitgenossenschaft nach § 11 Z 2 ZPO einen gemeinschaftlichen Gerichtsstand voraussetzt, schafft die materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO iVm § 93 JN einen derartigen gemeinsamen Gerichtsstand, wenn kein anderer gemeinsamer Gerichtsstand vorliegt.

[10] 3.2. Der Fall der „Rechtsgemeinschaft“ ist im vorliegenden Fall evident nicht erfüllt. Das Rekursgericht hat sich eingehend mit der solidarischen Haftung der Beklagten beschäftigt und gelangte zur Auffassung, dass die Beklagten für den ihnen gegenüber geltend gemachten Widerrufsanspruch nicht solidarisch haften, weil jeder Beklagte allein zum Widerruf verpflichtet ist und der Widerruf durch einen der Beklagten den anderen nicht von seiner Leistungspflicht befreit.

[11] 3.3. Allerdings liegt materielle Streitgenossenschaft auch vor, wenn für alle Streitgenossen ein einheitlicher rechtserzeugender Sachverhalt gegeben ist (Schneider in Fasching/Konecny 3 § 11 ZPO Rz 12 mwN; RS0035528 [T1, T5]), ohne dass für einen Streitgenossen noch weitere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung des Anspruchs hinzutreten (RS0035450).

[12] 3.4. Im vorliegenden Fall stützt der Kläger die Haftung der Beklagten auf ihre gemeinsame Teilnahme an einem „Shitstorm“. Die Beklagten hätten sich entschlossen, den Ruf des Klägers unter Einsatz des Mediums Facebook zu ruinieren. Die Beklagten hätten beabsichtigt, dem Kläger größtmöglich zu schaden. Das Facebook‑Posting habe die Aufforderung enthalten „Lasst dieses Gesicht des Polizisten um die Welt gehen“. Beide Beklagten hätten ab 21. 2. 2021 den Beitrag wochenlang veröffentlicht, wobei der Erstbeklagte auf Facebook 1.188 „Freunde“, der Zweitbeklagte 3.628 „Freunde“ habe. Beide Beklagten veröffentlichten nach dem Klagsvorbringen ein identes Posting auf Facebook. Neben der Textmitteilung sei die Rufschädigung des Klägers auch durch den Schneeballeffekt des „Shitstorms“ eingetreten, weil das Posting auch die Aufforderung enthielt, das Posting weiter zu verbreiten.

[13] Bei dieser Sachlage kann aber kein Zweifel bestehen, dass die Beklagten aus demselben tatsächlichen Grund verpflichtet sind, sofern sich das Klagsvorbringen als zutreffend erweisen sollte. Ob darüber hinaus die Beklagten auch solidarisch haften, spielt für die Zuständigkeit nach § 93 JN ebenso wenig eine Rolle wie für die Erfüllung des Tatbestands des § 11 Z 1 ZPO, reicht es doch nach beiden Bestimmungen aus, dass eines der Tatbestandsmerkmale des § 11 Z 1 ZPO erfüllt wird (vgl Schneider in Fasching/Konecny 3 § 11 ZPO Rz 7).

[14] 4. Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.

[15] 5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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