OGH 2Ob94/21v

OGH2Ob94/21v24.6.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* P*, vertreten durch Dr. Herwig Mayrhofer, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei A* GmbH, *, vertreten durch Wolf Theiss Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 68.858 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. April 2019, GZ 2 R 44/19h‑101, mit welchem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 23. Jänner 2019, GZ 21 Cg 43/18m‑97, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132283

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.299,14 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin 383,19 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin war am 20. März 2014 Fluggast eines von der Beklagten durchgeführten Fluges von Wien nach St. Gallen/Altenrhein (Schweiz). Bei der Landung zeichnete der Flugschreiber eine vertikale Belastung von 1,8 g auf. Eine solche Landung kann subjektiv als hart empfunden werden. Sie lag aber auch unter Berücksichtigung einer Messtoleranz aus luftfahrttechnischer Sicht (noch) im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs, der nach den Vorgaben des Flugzeugherstellers bis zu einer Belastung von 2 g reicht. Ein Fehlverhalten des Piloten konnte nicht festgestellt werden. Aus flugtechnischer Sicht ist am Flughafen St. Gallen/Altenrhein wegen der alpinen Lage eine härtere Landung sicherer als eine zu weiche.

[2] Die Klägerin begehrt Schadenersatz in Höhe von 68.858 EUR sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche Schäden aufgrund der „harten“ Landung. Sie habe beim plötzlichen Aufsetzen des Flugzeugs einen Bandscheibenvorfall erlitten. Da die Landung als Unfall im Sinn des Art 17 Montrealer Übereinkommen (MÜ) zu qualifizieren sei, hafte die Beklagte für die Folgen.

[3] Die Beklagte wendet ein, die Landung sei im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs erfolgt. Es handle sich daher um ein typisches Ereignis während eines Fluges, nicht um einen Unfall im Sinn von Art 17 MÜ.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Haftung nach Art 17 MÜ setze einen Unfall voraus, der nur bei einer „außerordentlich harten Landung“ anzunehmen sei. Eine solche sei hier nicht vorgelegen. Typische Ereignisse einer Luftbeförderung, zu denen auch eine harte Landung oder ein starkes Abbremsen gehörten, rechtfertigten die Haftung nicht, weil der Fluggast solche Ereignisse kenne und mit ihnen rechne.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu.

[6] Zwar könne ausnahmsweise auch eine harte Landung ein Unfall im Sinn von Art 17 MÜ sein. Das setze aber voraus, dass die vom Hersteller vorgegebenen Grenzwerte für die Belastung des Fahrwerks und der tragenden Teile deutlich überschritten würden. Eine – wie hier – betriebsübliche Landung schließe die Annahme eines Unfalls aus. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Qualifikation einer betriebsüblichen Landung als Unfall im Sinn von Art 17 MÜ fehle.

[7] Mit ihrer Revision strebt die Klägerin eine stattgebende Sachentscheidung an. Sie hält ihre Ansicht aufrecht, dass die harte Landung als Unfall im Sinn von Art 17 MÜ zu qualifizieren sei.

[8] Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[10] 1. Ob eine erhebliche Rechtsfrage vorliegt, ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Die Revision ist daher nach ständiger Rechtsprechung zurückzuweisen, wenn zwar bei Entscheidung der zweiten Instanz eine erhebliche Rechtsfrage vorlag, die Rechtslage aber inzwischen durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wurde (RS0112921 [insb T5]).

[11] 2. Eine zur Unzulässigkeit der Revision führende Klärung der Rechtslage kann im Anwendungsbereich des Unionsrechts auch durch eine – gegebenenfalls (wie hier) erst im Revisionsverfahren eingeholte – Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs erfolgen. Grund dafür ist dessen insofern bestehende Leitfunktion: Hat der EuGH eine Frage des Unionsrechts entschieden, so ist die Revision nur zulässig, wenn die angefochtene Entscheidung dazu im Widerspruch steht; das Fehlen von Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs schadet dann – ebenso wie bei einem acte clair (1 Ob 216/02z) – nicht (2 Ob 48/21d; Lovrek in Fasching/Konecny 3 § 502 ZPO Rz 59 mwN).

[12] 3. Ein solcher Fall liegt hier vor:

[13] 3.1. Der Senat hat den Europäischen Gerichtshof nach Art 267 AEUV um Entscheidung folgender Frage ersucht:

Ist eine harte, aber noch im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs liegende Landung, die zur Verletzung eines Fluggasts führt, ein Unfall im Sinn von Art 17 Abs 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde?

 

[14] 3.2. Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage mit Urteil vom 12. Mai 2021, C‑70/20 , wie folgt beantwortet:

Art. 17 Abs. 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Unfall“ keine Landung erfasst, die im Einklang mit den für das betreffende Flugzeug geltenden Verfahren und Betriebsgrenzen– einschließlich der Toleranzen und Spannen in Bezug auf Leistungsfaktoren, die einen erheblichen Einfluss auf die Landung haben – und unter Berücksichtigung der Regeln der Technik und der bewährten Praktiken auf dem Gebiet des Betriebs von Luftfahrzeugen durchgeführt wird, auch wenn der betroffene Fluggast diese Landung als ein unvorhergesehenes Ereignis wahrnehmen sollte.

 

[15] 3.3. Mit dieser Vorabentscheidung ist die Rechtslage zur einzigen im Revisionsverfahren strittigen Frage geklärt. Da das Berufungsgericht in diesem Sinn entschieden hat, ist die Revision zurückzuweisen.

[16] 4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 50 Abs 2 ZPO iVm § 41 ZPO. Konnte der Revisionsgegner bei Erstattung der Rechtsmittelbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision nicht erkennen, weil zu diesem Zeitpunkt die zur Unzulässigkeit führende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs oder – wie hier – des Europäischen Gerichtshofs noch nicht ergangen war, so stehen ihm in analoger Anwendung von § 50 Abs 2 ZPO die Kosten der Revisionsbeantwortung auch dann zu, wenn er auf die Unzulässigkeit nicht hingewiesen hat (RS0123861).

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