OGH 5Ob225/20d

OGH5Ob225/20d13.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj L*****, geboren am ***** 2003, über den Revisionsrekurs des Vaters J*****, vertreten durch Dr. Harald Hauer, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. August 2020, GZ 43 R 372/20d‑48, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 10. Juli 2020, GZ 16 Pu 28/19t‑42, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00225.20D.0413.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Vater stellte den Antrag, ihn ab 1. 2. 2020 von seiner Verpflichtung zur Leistung eines monatlichen Unterhalts von 660 EUR zu entheben.

[2] Das Erstgericht setzte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters für die Zeit vom 1. 4. 2020 bis 31. 5. 2020 auf monatlich 626 EUR und für Juni 2020 auf 651 EUR herab. Das Mehrbegehren des Vaters, ihn ab 1. 2. 2020 von seiner Unterhaltspflicht zu entheben, wies das Erstgericht ab.

[3] Das Rekursgericht gab dem gegen die Abweisung seines Mehrbegehrens auf Enthebung von der Unterhaltspflicht gerichteten Rekurs des Vaters nicht Folge. Das Rekursgericht verneinte die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens und teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, der Minderjährige sei nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen auf Basis des festgestellten Sachverhalts noch nicht (fiktiv) selbsterhaltungsfähig. Bei dieser Beurteilung sei unter anderem zu berücksichtigen, dass sich im Bemessungszeitraum die Lage am Arbeitsmarkt wegen der herrschenden COVID 19‑Pandemie verschärft habe. Unter den in dieser Zeit herrschenden Verhältnissen müsse einem Minderjährigen ein längerer Zeitraum eingeräumt werden, um eine Lehrstelle zu finden.

[4] Gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der – vom Rekursgericht aus Anlass der darin implizit enthaltenen Zulassungsvorstellung nachträglich für zulässig erklärte (§ 63 Abs 3 AußStrG) – Revisionsrekurs des Vaters. Er beantragt, den Beschluss des Rekursgerichts dahin abzuändern, dass seinem Antrag auf gänzliche Enthebung von der Unterhaltspflicht stattgegeben werde, hilfsweise dass der Beschluss des Erstgerichts aufgehoben und diesem aufgetragen werde, die von ihm beantragten Beweise aufzunehmen.

[5] Der durch den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger vertretene Minderjährige beantragte in seiner Revisionsrekursbeantwortung , den Revisionsrekurs abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Revisionsrekurs ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Rekursgerichts – mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig und daher zurückzuweisen. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).

[7] 1. Ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz bildet keinen Revisionsrekursgrund (RIS‑Justiz RS0050037, RS0030748, RS0043919). Dieser Grundsatz wäre nur dann unanwendbar, wenn das Rekursgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hätte (RS0043086, RS0043166). Das ist hier nicht der Fall. Das Rekursgericht hat sich mit den behaupteten Stoffsammlungsmängeln auseinandergesetzt und unter Hinweis auf das im außerstreitigen Verfahren herrschende Beweisaufnahmeermessen ausführlich begründet, warum diese nicht vorliegen. Die der Sache nach geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegt daher nicht vor.

[8] 2. Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit ist anzunehmen, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung noch eine mögliche Erwerbstätigkeit betreibt, also arbeits- und ausbildungsunwillig ist, ohne dass krankheits- oder entwicklungsbedingt die Fähigkeiten fehlen, für sich selbst aufzukommen (RS0114658, RS0128691). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist aber, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (RS0047605). Bei Prüfung der Frage, ob im Hinblick auf das Unterbleiben einer Ausbildung bzw Erwerbstätigkeit Selbsterhaltungsfähigkeit anzunehmen ist, sind daher die Gründe zu erheben, die dazu führten, dass eine Ausbildung oder Berufstätigkeit unterblieb. Nur auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob dem Kind ein Verschulden zur Last fällt (10 Ob 10/15s mwN; RS0047605 [T2]).

[9] 3. Ob die Voraussetzungen der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit gegeben sind, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Diese Beurteilung wirft daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf (vgl RS0008857, RS0109289). Eine aus Gründen der Rechtssicherheit auch im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts zeigt der Revisionsrekurs nicht auf. Das Rekursgericht stützt seine Rechtsansicht unter anderem darauf, dass die durch die COVID 19‑Pandemie bedingte besondere Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage bei der Beurteilung, ob dem Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft, zu berücksichtigen ist. Diese – vom Rekursgericht als erheblich iSd § 62 Abs 1 AußStrG bezeichnete – Rechtsfrage spricht der Vater in seinem Revisionsrekurs zwar an. Er stellt diese Rechtsansicht des Rekursgerichts aber grundsätzlich gar nicht in Frage (vgl RS0102059 [T8, T13, T18]), sondern kritisiert das vom Rekursgericht im Zug dieser Betrachtung für den vorliegenden Einzelfall erzielte Ergebnis. Auch das aufgezeigte Fehlen einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer solchen Fallgestaltung begründet keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG, wenn der Streitfall – wie hier – zwanglos anhand der bereits vorhandenen Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann und gelöst wurde (RS0042656 [T48], RS0042742 [T13]).

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