OGH 9ObA102/20w

OGH9ObA102/20w25.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau, Mag. Korn (Senat nach § 11a Abs 3 ASGG) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz Rechtsanwält_Innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K*****, wegen Kündigungsanfechtung, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. September 2020, GZ 10 Ra 72/20m‑8, mit dem dem Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 30. Juli 2020, GZ 15 Cga 69/20f‑2, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00102.20W.1125.000

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens und die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Klägerin brachte am 8. 7. 2020 einen Schriftsatz beim Erstgericht ein, der mit „I. Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. II. Klage“ bezeichnet wurde. In diesem heißt es auszugsweise:

„I. Ich bin bei der beklagten Partei seit 2. 1. 2014 als Kinderbetreuerin beschäftigt. Am 22. 6. 2020 habe ich das Kündigungsschreiben der beklagten Partei, welches eingeschrieben versendet wurde, behoben. Gemäß Sendungsverlauf wurde das Poststück bereits am 16. 6. in die Post‑Empfangsbox eingelegt. Dies war mir jedoch nicht bekannt. Für den Fall, dass das Gericht davon ausgeht, dass das Kündigungsschreiben bereits am 16. 6. zugegangen ist, stelle ich aus Vorsichtsgründen den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagsfrist gemäß § 105 Abs 4 Arbeitsverfassungsgesetz.

Der Fristversäumnis lag ein unvorhergesehenes, unübersteigbares Hindernis, nämlich die Unkenntnis des Zugangs des Kündigungsschreibens, zugrunde (...)

II. Gleichzeitig mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hole ich die versäumte Rechtshandlung nach und erhebe sohin nachstehende Klage:

Ich fechte die mit 9. 6. 2020 datierte Kündigung wegen Sozialwidrigkeit an (...)

Sohin beantrage ich die Fällung nachstehenden Urteils:

Die Kündigung wird für rechtsunwirksam erklärt.“

Das Erstgericht wies die Klage ohne Durchführung eines Bescheinigungsverfahrens als verspätet zurück. Seiner rechtlichen Beurteilung legte es einen Zugang des Kündigungsschreibens am 22. 6. 2020 zugrunde. Davon ausgehend sei zum Zeitpunkt der Einbringung der Klage am 8. 7. 2020 die 14‑tägige Anfechtungsfrist bereits abgelaufen gewesen, die Klage sei daher verspätet.

Dem Rekurs der Klägerin gegen diesen Beschluss gab das Rekursgericht nicht Folge. Richtig sei, dass nach der Reihung im verfahrenseinleitenden Schriftsatz zuerst über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden gewesen wäre. Der Wiedereinsetzungsantrag sei jedoch nur bedingt für den Fall, dass das Gericht davon ausgehe, dass das Kündigungsschreiben bereits am 16. 6. 2020 zugegangen sei, erhoben worden. Diese Bedingung sei nicht eingetreten, weil das Erstgericht seiner Beurteilung eine Zustellung am 22. 6. 2020 zugrunde gelegt habe, sodass über diesen Prozessantrag nicht zu entscheiden gewesen sei.

Ausgehend vom 22. 6. 2020 hätte die Klägerin bis 6. 7. 2020 die Klage einbringen können. Für die Versäumung dieser Frist habe die Klägerin keinen Wiedereinsetzungsgrund behauptet. Die Klage sei damit verspätet.

Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu, da keine erhebliche Rechtsfrage vorliege.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin mit dem Antrag, den Beschluss dahingehend abzuändern, dass dem Antrag auf Wiedereinsetzung stattgegeben wird und die Rechtssache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen wird; in eventu den Beschluss des Rekursgerichts aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung zurückzuverweisen.

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem für den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Klägerin macht geltend, dass entgegen der Annahme der Vorinstanzen die Zustellung bereits am 16. 6. 2020 erfolgt sei, ihr aufgrund ihrer Erkrankung erst am 1. 7. 2020 die Versäumung der Klagsfrist bekannt geworden sei und damit der Wiedereinsetzungsantrag am 8. 7. 2020 rechtzeitg erfolgt sei. Dieser Wiedereinsetzungsantrag sei in ihrem einleitenden Schriftsatz vor der Erhebung der Klage gereiht gewesen. Bei der Klage habe sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie damit die versäumte Prozesshandlung nachhole. Daraus ergebe sich, dass sie diese nur zusammen mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung habe erheben wollen. Über die Klage hätte daher nicht als eigenständige Prozesshandlung entschieden werden dürfen. Es sei nicht richtig, dass der Wiedereinsetzungsantrag nur eventualiter gestellt worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig (§ 528 Abs 1 ZPO) und berechtigt.

1. Richtig ist, was auch die Vorinstanzen grundsätzlich berücksichtigt haben, dass die Klägerin am Deckblatt ihres verfahrenseinleitenden Schriftsatzes eine ausdrückliche Reihung vorgenommen hat, wobei der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erstgereiht war. Darüber hinaus hat sie im Schriftsatz ausdrücklich darauf hingewiesen, mit der Klage die versäumte Prozesshandlung nachzuholen, woraus sich schließen lässt, dass sie selbst zu diesem Zeitpunkt von einer Verspätung der Klage ausging und die Klagserhebung nur als Teil des Wiedereinsetzungsantrags (Nachholen der versäumten Prozesshandlung iSd § 149 Abs 1 ZPO) behandelt wissen wollte.

2. Den Vorinstanzen ist allerdings darin recht zu geben, dass der Wiedereinsetzungsantrag von der Klägerin „aus Vorsichtsgründen für den Fall, dass das Gericht davon ausgeht, dass das Kündigungsschreiben bereits am 16. 6. 2020 zugegangen ist“ gestellt wurde, also rein nach seinem Wortlaut nur unter einer Bedingung.

3. Schon das Rekursgericht hat darauf verwiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung bedingte Prozesshandlungen grundsätzlich unzulässig sind, sofern die Verfahrensgesetze nicht Ausnahmeregelungen enthalten oder die Bedingung nicht in einem Anknüpfen an einen innerprozessualen Umstand oder Vorgang besteht (9 ObA 80/14a ua; vgl auch RS0006429; RS0006445). Dementsprechend kann die Einleitung des Verfahrens selbst nicht bedingt erfolgen (RS0039602 [T3]). Ein verfahrenseinleitender Wiedereinsetzungsantrag, der nur bedingt erfolgt, wäre damit grundsätzlich unzulässig. Dessen ungeachtet wäre formell über ihn zu entscheiden, nicht über die damit nur verbundene „nachgeholte“ Prozesshandlung.

4. Im konkreten Fall ist aber Folgendes zu berücksichtigen: Betrachtet man allein den Wortlaut des Antrags der Klägerin, liegt ausschließlich ein in eventu erhobener Wiedereinsetzungsantrag verbunden mit der Nachholung der versäumten Prozesshandlung (Klage) vor, über den die Vorinstanzen nicht entschieden haben.

Geht man demgegenüber allerdings davon aus, was die Klägerin mit ihrem Antrag beabsichtigt, kann dieser dahingehend verstanden werden, dass die Klägerin selbst von einer Versäumung der Klagsfrist ausgeht und der Wiedereinsetzungsantrag ungeachtet der missverständlichen Formulierung unbedingt gestellt wurde. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem von der Klägerin erstatteten Tatsachenvorbringen, dass die Kündigung am 16. 6. 2020 in ihrer Post-Empfangsbox eingelegt worden sein soll, ihr jedoch erst am 22. 6. 2020 bekannt geworden sei. Damit geht sie selbst davon aus, dass das Poststück am 16. 6. 2020 in ihrer Sphäre einlangte. Auf die Ausführungen im Revisionsrekurs zum Zustellgesetz ist dabei nicht einzugehen, da dieses nur für Zustellungen von Gerichts‑ und Verwaltungsbehörden gilt (§ 1 ZustG), nicht von, wenn auch eingeschriebenen, Privatsendungen.

Darüber hinaus würde bei einem anderen Verständnis des Antrags weder die Reihung des Wiedereinsetzungsantrags an erster Stelle noch die Erhebung der Klage als nur „nachgeholte Prozesshandlung“ Sinn ergeben.

Selbst wenn man davon ausginge, dass dieses Verständnis sich nicht eindeutig aus dem verfahrenseinleitenden Schriftsatz ableiten lässt, wäre allenfalls ein Verbesserungsverfahren einzuleiten, nicht jedoch mit einer Zurückweisung der Klage vorzugehen gewesen.

5. Es ist daher primär von einem unbedingt gestellten Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin auszugehen, über den die Vorinstanzen bislang nicht entschieden haben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher ersatzlos zu beheben und dem Erstgericht die Entscheidung über den Wiederseinsetzungsantrag aufzutragen.

6. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 50 ZPO.

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