European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E127560
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Jochen H* dreier Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I) und dreier Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (II) schuldig erkannt.
Danach hat er von 1. Jänner 2001 bis Mitte 2003 in B*
(I) außer dem Fall des § 206 StGB in drei Angriffen geschlechtliche Handlungen an dem am * geborenen, sohin unmündigen, * M* vorgenommen und von diesem an sich vornehmen lassen, indem er jeweils die Hand des Kindes ergriff, sie zu seinem (US 4 f) nackten Penis führte und Auf- und Abbewegungen durchführte und anschließend seinen Penis in einem Fall gegen den nackten Beckenbereich und in einem weiteren Fall gegen den nackten Penis des Unmündigen drückte und dessen Penis mit der Hand berührte;
(II) durch die zu (I) beschriebenen Handlungen mit einer minderjährigen Person, die jeweils seiner Aufsicht unterstand, (US 5) indem sie sich im Einverständnis mit der Erziehungsberechtigten in seiner Wohnung aufhielt, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen und von dieser an sich vornehmen lassen.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt keine Berechtigung zu.
Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung des Antrags auf „Einholung eines Sachbefund und Gutachtens“ (vgl ON 45 S 40: eines „reinen Aktengutachtens anhand des Gerichtsaktes, insb anhand der Einvernahmeprotokolle des Zeugen M*“) „aus den Bereichen Psychologie/Psychiatrie/Aussagepsychologie bzw Kinderpsychologie/Kinderpsychiatrie/Kinderaussagepsychologie zum Beweis dafür, dass die Aussagen des * M* bei der Polizei in ON 2 sowie anlässlich seiner kontradiktorischen Einvernahme vom 26. Juli 2018 zu 27 HR 139/18k, ON 11, forensisch nicht verwertbar sind, keine ausreichenden Hinweise auf erlebnisorientierte (erlebensbasierte) Aussagen vorliegen, sie aus aussagepsychologischer Sicht nicht glaubhaftig sind und von einer (Auto-)Suggestion auszugehen ist“ (ON 45 S 17 ff), Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers nicht verletzt.
Der Beweisantrag zielte der Sache nach auf eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen M* ab.
Die Beurteilung der Wahrheit und Richtigkeit der Aussage von Zeugen ist als Ergebnis der Prüfung der Glaubwürdigkeit und Beweiskraft der im Verfahren vorgeführten Beweismittel ein Akt freier Beweiswürdigung, der ausschließlich dem Gericht zukommt (§ 258 Abs 2 StPO). Nur in besonders gelagerten Fällen bedarf es der Hilfestellung eines Sachverständigen (RIS-Justiz RS0097733 [insb T3, T8], RS0098297).
Die Einholung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigengutachtens setzt in diesem Zusammenhang voraus, dass sich aus dem Beweisverfahren objektive Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung, Entwicklungsstörung oder einen sonstigen Defekt beim Zeugen ergeben, welche als erhebliche, nach Bedeutung und Gewicht dem Grad der in § 11 StGB erfassten Geistesstörungen nahekommen müssen. Ein aussagepsychologisches Gutachten ist nur dann erforderlich, wenn die Beurteilung der Verlässlichkeit einer Zeugenaussage von Fachkenntnissen abhängt, deren Vorliegen beim erkennenden Gericht nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Es müssen somit konkret erhebliche Bedenken gegen die allgemeine Wahrnehmungs- oder Wiedergabefähigkeit des Zeugen oder gegen seine (vom Einzelfall unabhängige) Aussageehrlichkeit schlechthin gegeben sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn durch Beweisergebnisse aktenmäßig belegte Ansatzpunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen, vorliegen (vgl zu alldem: RIS‑Justiz RS0097733; Hinterhofer,WK-StPO § 126 Rz 11 f). Umstände hingegen, die bloß gegen die Glaubwürdigkeit oder Verlässlichkeit eines Zeugen im gegebenen Anlassfall sprechen, wie etwa widersprüchliche Aussagen, unterliegen ausschließlich der Beweiswürdigung durch das Gericht und genügen somit nicht für eine Sachverständigenbestellung (vgl RIS-Justiz RS0097576).
Ausgehend von diesen Prämissen ließen sich dem (zusammengefassten) Antragsvorbringen, es liege ein solcher besonders gelagerter Fall, der die Einholung eines „Aktengutachtens“ erfordere, vor, weil die Aussagen des Opfers laut den Schlussfolgerungen einer privaten Expertin widersprüchlich, von geringer Aussagequalität, nicht erlebnisfundiert und nicht glaubhaft seien, und weil es sich bei M* „gegenwärtig um eine erwachsene Person im Alter von 26 Jahren handle, welche vor rund 1½ bis 2 Jahren begann, Vorwürfe und Anschuldigungen gegen H* zu erheben, die vor ca 17 Jahren stattgefunden haben sollen, als M* damals rund 9 Jahre alt gewesen sein soll“, keine konkreten objektiven Anhaltspunkte im dargestellten Sinn entnehmen, die die Beiziehung eines Sachverständigen indiziert hätten, sodass der Antrag auf unzulässige Aufnahme eines Erkundungsbeweises abzielte (vgl erneut RIS-Justiz RS0097576).
Hinzugefügt sei, dass Privatexperten keine Sachverständigen im Sinn der StPO sind, weshalb ihre Schlussfolgerungen und Meinungen keinen eigenen Beweiswert haben (vgl Ratz,WK-StPO § 281 Rz 351, 435), und die Schlussfolgerungen einer privaten Person mit besonderem Fachwissen zur Begründung eines Beweisantrags lediglich im – hier nicht gegebenen – Fall der beabsichtigten Widerlegung eines die Anklage stützenden Sachverständigengutachtens (§ 222 Abs 3 StPO) zu berücksichtigen sind (vgl Danek/Mann, WK-StPO § 222 Rz 5/1 ff).
Die in der Beschwerdeschrift zur Antragsfundierung nachgetragenen Argumente unterliegen dem Neuerungsverbot und sind daher unbeachtlich (RIS-Justiz RS0099618, RS0099117). Die vom Beschwerdeführer kritisierte Begründung des den Antrag abweisenden Beschlusses (ON 45 S 42 f) steht nicht unter Nichtigkeitssanktion (RIS-Justiz RS00116749).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen (§ 285i StPO). Ihm kommt – weil der Oberste Gerichtshof nach § 285i StPO vorgegangen ist (§ 296 Abs 1 zweiter Satz StPO) – auch die Kompetenz zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Privatbeteiligten * M* zu (§ 364 Abs 2 Z 3 StPO; vgl RIS-Justiz RS0101250).
Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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