OGH 7Ob4/20v

OGH7Ob4/20v10.2.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. K* S*, vertreten durch Poduschka Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei N*-Aktiengesellschaft *, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 15.163,73 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 1. August 2018, GZ 2 R 99/18v‑14, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 8. Mai 2018, GZ 12 Cg 65/17g‑10, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E127403

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.096,56 EUR (darin 182,76 EUR an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger, ein Rechtsanwalt, schloss zu privaten Zwecken als Versicherungsnehmer beim beklagten Versicherer einen Vertrag über eine fondsgebundene Lebensversicherung ab.

In dem von der Beklagten für den Versicherungsantrag („Antrag auf Fonds-Polizze“) verwendeten Formular war unmittelbar oberhalb der vom Kläger am 19. 1. 1999 geleisteten Unterschrift in farblich (hellblau) hervorgehobener Kleinschrift abgedruckt:

Bevor Sie diesen Antrag unterschreiben, lesen Sie bitte auf der Rückseite die Schlusserklärung des Antragstellers und des Versicherten zusammen mit den erläuternden Hinweisen. Sie enthalten … Informationen zum Rücktrittsrecht … ; dies sind wichtige Vertragsbestandteile. Sie machen diese mit Ihrer Unterschrift zum Inhalt des Antrages.

Auf der Rückseite dieses Versicherungsantrags ist abgedruckt:

„... Erläuternde Hinweise:

Versicherungsbedingungen und geltendes Recht

Rücktrittsrechte

Haben Sie als Versicherungsnehmer den Antrag nicht in den Geschäftsräumen des Versicherers oder eines ihrer Vertreter unterzeichnet, und sind Sie Verbraucher im Sinne des § 1 KSchG, so können Sie gemäß § 3 KSchG vom Antrag beziehungsweise Vertrag zurücktreten. Dieser Rücktritt kann bis zum Zustandekommen des Vertrages oder auch danach binnen einer Woche erklärt werden. Die Frist beginnt mit der Ausfolgung der Polizze.

Weiters können Sie nach § 3a KSchG als Verbraucher vom Antrag beziehungsweise Vertrag zurücktreten, wenn Sie ohne Ihre Veranlassung für Ihre Einwilligung maßgebliche Umstände, die der Versicherer oder sein Vertreter im Zuge der Vertragsverhandlungen als wahrscheinlich dargestellt hat, nicht oder nur in erheblich geringeren Maß eintreten (dies sind: Mitwirkung oder Zustimmung eines Dritten, Aussicht auf steuerliche Vorteile, öffentliche Förderung oder Kredit). Der Rücktritt kann binnen einer Woche erklärt werden. Die Frist beginnt zu laufen, sobald erkennbar ist, dass die genannten Umstände nicht oder nur in erheblich geringerem Ausmaß eintreten und Sie eine schriftliche Belehrung über dieses Rücktrittsrecht erhalten haben. Das Rücktrittsrecht erlischt jedoch spätestens einen Monat nach Zustandekommen des Vertrages. Das Rücktrittsrecht steht Ihnen dann nicht zu, wenn Sie bereits bei den Vertragsverhandlungen wussten oder wissen hätten müssen, dass die maßgeblichen Umstände nicht oder nur in erheblich geringerem Ausmaß eintreten werden, wenn das Rücktrittsrecht konkret ausgeschlossen wurde oder der Versicherer sich zu einer angemessenen Anpassung des Vertrages bereit erklärt.

Haben Sie gemäß § 5b VersVG als Versicherungsnehmer bei Abschluss des Vertrages die Versicherungsbedingungen (einschließlich der Bestimmungen über die Festsetzung der Prämie, soweit diese nicht im Antrag bestimmt ist, und der vorgesehenen Änderungen der Prämie) beziehungsweise eine Kopie Ihrer Vertragserklärung nicht erhalten und wurden die in den §§ 9a und 18b VAG enthaltenen Mitteilungspflichten nicht erfüllt, so können Sie binnen zweier Wochen vom Vertrag zurücktreten. Das Rücktrittsrecht erlischt spätestens einen Monat nach Zugang der Polizze beziehungsweise einer Belehrung über das Rücktrittsrecht. Die Frist beginnt nach Erfüllung der Mitteilungspflichten und Ausfolgung der Polizze inklusive Versicherungsbedingungen und einer Belehrung über das Rücktrittsrecht zu laufen.

Der Rücktritt bedarf zu seiner Rechtswirksamkeit jeweils der Schriftform. Es genügt, wenn die Erklärung innerhalb der genannten Fristen abgesendet wird.

Gemäß § 165a VersVG ist der Versicherungsnehmer berechtigt, binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen eines Lebensversicherungsvertrages von diesem zurückzutreten ...“

Bei Unterfertigung des Versicherungsantrags erhielt der Kläger die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der fondsgebundenen Lebensversicherung ausgehändigt. Diese lauten auszugsweise:

„...

§ 17 Was gilt für Erklärungen, die den Versicherungsvertrag betreffen?

1. Alle Ihre Erklärungen sind gültig, wenn sie schriftlich erfolgen und bei der (Beklagten) eingelangt sind.

...“

Mit Schreiben vom 3. 2. 1999 übermittelte die Beklagte dem Kläger unter Angabe ihrer vollständigen Anschrift die Versicherungspolizze entsprechend dem Antrag des Klägers.

Auf der Rückseite des Begleitschreibens zur Polizze war abgedruckt:

„…

Nur Schriftliches ist rechtswirksam

Willenserklärungen und Anzeigen gegenüber der Gesellschaft bedürfen der Schriftform. Sie brauchen von ihr nur dann als rechtswirksam angesehen zu werden, wenn sie der Gesellschaft zugegangen sind.

Rücktrittsrechte

(Text wie auf der Rückseite des Antragsformulars)

...“

Der Lebensversicherungsvertrag begann am 1. 2. 1999 und lief am 1. 2. 2014 ab. Die Prämien bezahlte der Kläger als Einmalerlag von 250.000 ATS (18.168,21 EUR) am 1. 2. 1999. Einen Rücktritt erwog der Kläger während der gesamten Vertragslaufzeit nicht. Nach Laufzeitende 2014 bezahlte die Beklagte dem Kläger den Ablaufwert von 14.052,49 EUR.

Der Kläger erklärte am 8. 5. 2017 gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag und forderte sie auf, 15.904,58 EUR an vermeintlich rechtsgrundlos geleisteten Prämien samt Zinsen zurückzubezahlen. Die Beklagte lehnt ab.

Der Kläger begehrte mit der am 19. 12. 2017 eingebrachten Klage die mit 15.163,73 EUR sA ermittelte Differenz aus einbezahlten Prämien samt 4 % Zinsen und dem erhaltenen Ablaufwert samt Zinsen sowie abzuziehender Risikokosten. Er erhob hilfsweise das Eventualbegehren, den Lebensversicherungsvertrag ex nunc aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung zu verpflichten. Er brachte zusammengefasst vor, die Belehrung über das Rücktrittsrecht sei fehlerhaft, unzureichend und falsch gewesen, weil entgegen dem Gesetz die Schriftform gefordert worden und weil ein falscher Fristbeginn angegeben gewesen sei. Sie sei irreführend, weil der Fristbeginn für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht erkennbar sei und das Rücktrittsrecht des § 165a VersVG (aF) erst nach verschiedenen anderen Rücktrittsbelehrungen abgedruckt gewesen sei, die weitere Voraussetzungen erforderten.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren und erwiderte, der Kläger sei gesetzeskonform nach dem zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden § 165a VersVG aufgeklärt worden. Eine schriftliche Rücktrittserklärung sei nicht gefordert worden; das Schriftformerfordernis beziehe sich erkennbar nur auf andere Rücktrittsrechte. Der allgemeinen Klausel, wonach Willenserklärungen schriftlich abzugeben seien, sei als generelle Regel durch die spezielle Regelung zum Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (aF) derogiert worden. Allenfalls habe die allgemeine Regelung zu entfallen. Die Schriftform hätte vereinbart werden dürfen, ein Schriftformerfordernis diene der Erleichterung des Identitätsnachweises und der Rechtssicherheit und sei nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es führte rechtlich zusammengefasst aus, das Unionsrecht habe zum maßgeblichen Zeitpunkt nur verlangt, dass der Versicherungsnehmer nach Mitteilung vom Zustandekommen des Vertrags zumindest 14 Tage Zeit habe, um von diesem ohne Angabe von Gründen zurückzutreten und der Versicherer den künftigen Versicherungsnehmer vor Vertragsabschluss über den Inhalt des Vertrags und die Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts informieren müsse. Da eine bestimmte Form, die für den Rücktritt einzuhalten sei, europarechtlich nicht bestehe, sei die Vereinbarung der Schriftform richtlinienkonform. Von § 165a VersVG (aF) sei nicht zum Nachteil des Klägers abgewichen und dieser eindeutig über seine Rücktrittsrechte belehrt worden, was zur Abweisung von Haupt- und Eventualbegehren führen müsse.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es war der Rechtsansicht, dass einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbraucher, der im Begriff sei, sich langfristig mit einem Lebensversicherungsvertrag zu binden, zuzutrauen sei, sich die Belehrung über die Rücktrittsrechte so aufmerksam durchzulesen, dass sich das Schriftformgebot nicht auch auf das erst in einem weiteren Absatz beschriebene Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (aF) beziehe. Eine Unklarheit könnte sich zwar im Zusammenhang mit dem in den AVB statuierten Schriftformgebot für (jegliche) Erklärungen des Versicherungsnehmers ergeben, doch führe die Intransparenz über das Schriftformerfordernis nicht zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG (aF).

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Die Formularbelehrung liege einer Vielzahl von Lebensversicherungsverträgen zugrunde und zur Beurteilung, ob diese den nationalen und europarechtlichen Anforderungen genüge oder aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit dem Versicherungsnehmer ein unbefristetes Rücktrittsrecht zustehe, fehle höchstgerichtliche Rechtsprechung.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klagestattgebung. Hilfsweise stellt der Kläger auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision des Klägers abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Zu I.:

1. Der Senat hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 31. 10. 2018, AZ 7 Ob 202/18h, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z‑12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C‑479/18 , UNIQA Österreich Versicherungen ua, unterbrochen.

2. Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18 ,(ua) über das zuvor bezeichnete Vorabentscheidungsersuchen entschieden. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.:

A. Vorlagefragen und Beantwortungen:

1. Die vorlegenden Gerichte haben dem EuGH (ua) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.1. Vorlagefrage 1: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 , Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 dahin auszulegen (...), dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die dem Versicherungsnehmer vom Versicherer mitgeteilt werden, entweder nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die das auf den Vertrag anwendbare nationale Recht nicht vorschreibt“? (EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18 , Rn 60).

1.2. Diese Vorlagefrage 1 hat der EuGH wie folgt beantwortet:

„1. Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,

– nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder

– eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.“

2.1. Vorlagefrage 3: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 dahin auszulegen (...), dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, weil in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.“? (EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18 , Rn 91).

2.2. Diese Vorlagefrage 3 hat der EuGH wie folgt beantwortet:

„3. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.“

B. Auszahlung des Ablaufwerts:

1.1. Die Beklagte hat dem Kläger nach dem Laufzeitende den Ablaufwert ausbezahlt.

1.2. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 3 folgt, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, also insbesondere auch noch nach der Zahlung des Rückkaufswerts (hier: des Ablaufwerts) durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.

1.3. Im österreichischen Recht (VersVG) waren bis zum Zeitpunkt des vom Kläger am 8. 5. 2017 gegenüber der Beklagten erklärten Vertragsrücktritts die Rechtswirkungen für den Fall, dass dem Versicherungsnehmer keine oder fehlerhafte Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden, nicht geregelt. Einem dem Kläger infolge fehlerhafter Informationen gegebenenfalls noch zustehenden Rücktrittsrecht steht daher der Umstand, dass die Laufzeit des Versicherungsvertrags längst abgelaufen und die Beklagte dem Kläger auch schon den Ablaufwert ausbezahlt hat, grundsätzlich nicht entgegen.

C. Belehrung über das Rücktrittsrecht:

1. Zum nationalen (österreichischen) Recht bei Abschluss des Versicherungsvertrags:

1.1. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF BGBl I 1997/6) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. …“

1.2. Der bei Vertragsabschluss geltende § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) lautete:

„(1) Auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften der §§ 162 bis 164, der §§ 165, 165a und 169 oder des § 171 Abs. 1 Satz 2 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, kann sich der Versicherer nicht berufen. Jedoch kann für die Kündigung, zu der nach § 165 der Versicherungsnehmer berechtigt ist, die Schriftform ausbedungen werden.“

1.3. Der bei Vertragsabschluss geltende § 9a Abs 1 VAG (idF BGBl 1996/447) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluß eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

 

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluß des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.

...“

2. Zur Rechtsbelehrung der Beklagten:

2.1. Das Antragsformular der Beklagte enthielt in der Rechtsbelehrung über die Rücktrittsrechte des Versicherungsnehmers den Hinweis:

„Gemäß § 165a VersVG ist der Versicherungsnehmer berechtigt, binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen eines Lebensversicherungsvertrages von diesem zurückzutreten ...“

2.2. Die Rechtsbelehrung über das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers durch die Beklagte entsprach inhaltlich dem seinerzeit geltenden Unionsrecht sowie der österreichischen Rechtslage und war daher – nach ihrem Inhalt – nicht fehlerhaft, sondern richtig.

2.3. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) verlangte für die Erklärung des dem Versicherungsnehmer eingeräumten Rücktritts keine Schriftform. Auf eine davon zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweichende Vereinbarung einer Schriftform konnte und kann sich der Versicherer nach § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) nicht berufen.

2.4. Der Kläger vertritt in seiner Revision die Rechtsansicht, dass ihn die Beklagte deshalb unrichtig belehrt habe, weil sie für den Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) die Einhaltung der Schriftform verlangt habe. Der Kläger begründet seinen Standpunkt im Wesentlichen damit, dass sich der in der Belehrung über die Rücktrittsrechte enthaltene Hinweis zur Schriftform („Der Rücktritt bedarf zu seiner Rechtswirksamkeit jeweils der Schriftform.“) und/oder die in Art 17.1. AVB enthaltene Regelung (Was gilt für Erklärungen, die den Versicherungsvertrag betreffen? 1. Alle Ihre Erklärungen sind gültig, wenn sie schriftlich erfolgen …“) auch auf das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) bezogen hätten oder für einen durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer zumindest so zu verstehen gewesen seien. Selbst wenn man diesem Verständnis des Klägers folgen wollte, dass nämlich die Beklagte auch für das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) Schriftlichkeit verlangt habe, ergibt sich daraus aber – entgegen der Ansicht des Klägers – nicht ein unbefristetes Rücktrittsrecht:

D. Schriftformerfordernis und Wahrnehmung des Rücktrittsrechts:

1. Sollten die in C.3.4. bezeichneten Hinweise der Beklagten tatsächlich dem Kläger (Versicherungsnehmer) den Eindruck einer notwendigen Schriftform für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) vermittelt haben, dann läge betreffend die Form dieser Rücktrittserklärung insoweit eine unvollständige bzw unrichtige Belehrung durch die Beklagte vor, als „nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht keiner besonderen Form bedarf“ und „eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht … nicht vorgeschrieben ist“.

2. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 1 folgt allerdings, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt, nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben.

3. Nach Ansicht des Fachsenats wurde dem Versicherungsnehmer durch das Verlangen des Versicherers nach Einhaltung der Schriftform für die Ausübung seines Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) nicht die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Dies folgt im gegebenen Kontext aus folgenden Erwägungen:

4.1. § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) sah für die Ausübung des Rücktrittsrechts keine besondere Form vor. § 178 Abs 1 VersVG (idF BGBl 1994/509) bestimmte, dass sich der Versicherer auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften (ua) des § 165a VersVG (idF BGBl I 1997/6) zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, nicht berufen kann. Selbst wenn sich also der Kläger als Versicherungsnehmer für einen von ihm gegebenenfalls gewünschten Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) nicht an die Schriftform gehalten, diesen etwa mündlich (telefonisch) erklärt hätte, hätte sich die Beklagte nicht auf die Einhaltung der Schriftform berufen können. Ein Rücktritt des Klägers nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) hätte also ungeachtet der Rechtsbelehrung der Beklagen in jeder beliebigen Form – wirksam – erfolgen können.

4.2. Nach Art 31 Abs 4 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung, Art 36 Abs 4 der Richtlinie 2002/83 bzw Art 185 Abs 8 der Solvabilität‑II‑Richtlinie haben die Mitgliedstaaten die Durchführungsvorschriften zur unionsrechtlich vorgegebenen Belehrung zu erlassen. Gegenstand der Belehrung sind (ua) „die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts“, welche wiederum nach Art 15 Abs 1 Unterabs 3 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, Art 35 Abs 1 Unterabs 3 der Richtlinie 2002/83 bzw Art 186 Abs 1 Unterabs 3 der Solvabilität‑II‑Richtlinie ebenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegen sind (vgl dazu auch EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18 , Rn 61 f). Daraus folgt, dass der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten keine bestimmten Vorgaben für die Form der Ausübung des Rücktrittsrechts erteilt, sondern diesen deren Festlegung überlassen hat. Der österreichische Gesetzgeber hat Art 186 Abs 1 der Solvabilität‑II‑Richtlinie mit dem Bundesgesetz, mit dem das Versicherungsvertragsgesetz, das Konsumentenschutzgesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz 2016 geändert werden (BGBl I 2018/51) in Form des einheitlichen Rücktrittsrechts nach § 5c VersVG (idgF) umgesetzt. Als Grund für die in § 5c Abs 4 Satz 1 VersVG in Verbindung mit § 1b VersVG (idgF) für den Rücktritt vorgeschriebene Form führte der österreichische Gesetzgeber aus:

„Für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 5c wird im Hinblick auf die notwendige Beweisbarkeit für die rechtzeitige Absendung der Rücktrittserklärung die geschriebene Form vorgesehen. Die Vereinbarung einer strengeren Form soll nicht möglich sein. Damit werden die Voraussetzungen für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach Art. 186 Abs 1 Richtlinie 2009/138/EG gesetzlich geregelt.“ (IA 302/A 26. GP  5).

Der Gesetzgeber misst damit der Beweisbarkeit der Ausübung des Rücktrittsrechts besondere Bedeutung zu.

4.3. Im Alltag ist für eine Vielzahl von (rechtsgeschäftlichen) Erklärungen die Schriftform auch bei Privaten (Verbrauchern) eine geradezu typische und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform, die für jedermann einfach und ohne besonderen Aufwand durchzuführen ist, sodass keine für ihre Effektivität relevanten Hürden entgegenstehen. Der Schriftform für den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag stehen keine grundsätzlichen europarechtlichen Bedenken entgegen (vgl D.4.2.) und gerade die Schriftform beseitigt – im Unterschied zu mündlichen oder fernmündlichen Erklärungen – Zweifel über Zeitpunkt und Inhalt einer Rücktrittserklärung und dient insofern dem – auch vom Gesetzgeber (D.4.2.) betonten – Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung des Nachweises eines erhobenen Rücktritts. War daher eine Rechtsbelehrung des Versicherers oder eine in seinen AVB enthalten gewesene Regelung dahin zu verstehen, dass der Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) schriftlich zu erklären sei, dann stellt dies keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts dar, die dem Versicherungsnehmer dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

E. Ergebnis:

1. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 3 steht einem dem Kläger infolge fehlerhafter Informationen des Versicherers gegebenenfalls zustehendes unbefristetes Rücktrittsrecht der Umstand nicht entgegen, dass die Laufzeit des Versicherungsvertrags längst abgelaufen und die Beklagte dem Kläger auch schon den Ablaufwert ausbezahlt hat.

2. Die dem Kläger von der Beklagten erteilte Belehrung über sein Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) war inhaltlich richtig.

3. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Rechtsbelehrung bzw die AVB der Beklagten dem Kläger den Eindruck einer notwendigen Schriftform für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) vermittelt haben, folgt daraus keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts. Auf die Einhaltung der Schriftform konnte sich die Beklagte nicht berufen, sodass ein allfälliger Rücktritt des Klägers in jeder beliebigen Form wirksam gewesen wäre. Die Schriftform steht im gegebenen Kontext nicht mit europarechtlichen Vorgaben im Widerspruch, ist eine auch für Private (Verbraucher) ohne praktische Hürden wahrnehmbare und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform und dient im vorliegenden Zusammenhang dem Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung seiner Beweispflicht. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch den EuGH ist daher ein allfälliges Verlangen der Beklagten nach einer schriftlichen Ausübung des Rücktritts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts, die dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

4. Die Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 1997/6) hat im vorliegenden Fall mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem der Beklagte davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Vertrag geschlossen ist, also mit Zugang der Polizze samt Begleitschreiben vom 3. 2. 1999. Der im Jahr 2017 erklärte Vertragsrücktritt ist daher längst verfristet. Weitere Fragen zur Verjährung von Zinsen im Fall eines berechtigten Rücktritts des Versicherungsnehmers und zur Rückforderbarkeit der Versicherungssteuer stellen sich somit nicht. Die Vorinstanzen haben die Klagebegehren zu Recht abgewiesen. Der Revision ist ein Erfolg zu versagen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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