OGH 12Os114/19k

OGH12Os114/19k7.11.2019

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. November 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Sysel als Schriftführer in der Strafsache gegen Abdelilah E***** und weitere Angeklagte wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Abdelilah E***** und Bouchaib S***** sowie über die Berufung des Angeklagten Hassan T***** gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Jugendschöffengericht vom 14. März 2019, GZ 41 Hv 98/18w‑417, und über die Beschwerde des Angeklagten Bouchaib S***** gegen den Beschluss vom 20. August 2019 (ON 442) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0120OS00114.19K.1107.000

 

Spruch:

Der Beschwerde des Angeklagten Bouchaib S***** gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 20. August 2019, GZ 41 Hv 98/18w‑442, wird Folge gegeben und dieser im den Genannten betreffenden Umfang ersatzlos aufgehoben.

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Den Angeklagten E***** und S***** fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auch rechtskräftige Schuldsprüche Mitangeklagter enthaltenden Urteil wurden – soweit im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerden relevant – Abdelilah E***** und Bouchaib S***** jeweils eines Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG, § 12 zweiter Fall StGB (E***** zu A./I./, II./ und V./; S***** zu A./III./, IV./ und V./) und nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG (E***** zu B./I./; S***** zu B./II./) schuldig erkannt.

Danach haben zwischen Juni 2017 und 5. Mai 2018 im Großraum S***** und in den Niederlanden jeweils als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung bestehend aus Abdelilah E*****, Bouchaib S***** sowie drei weiteren im Urteil namentlich genannten Personen, vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Kokain und Cannabis,

A./ durch den von den Niederlanden über Deutschland nach S***** erfolgten Schmuggel von Suchtgift in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge (E***** insgesamt 1.309,9 Gramm Kokain mit einer Reinsubstanz von 724,4 Gramm Cocain, S***** insgesamt 1.409,9 Gramm Kokain mit einer Reinsubstanz von 774,4 Gramm Cocain) nach Österreich eingeführt (A./I./ bis III./) sowie dazu bestimmt (A./IV./ und V./), und zwar

I./ Abdelilah E***** „je eigenhändig und in Begleitung der Cennet A*****“

1./ im Juni 2017 50 Gramm Kokain (25 Gramm Cocain Reinsubstanz);

2./ Mitte Juli 2017 50 Gramm Kokain (25 Gramm Cocain Reinsubstanz);

3./ am 10. August 2017 100 Gramm Kokain (50 Gramm Cocain Reinsubstanz);

II./ Abdelilah E***** gemeinsam mit einem im Urteil genannten Mitangeklagten „und in Begleitung der Cennet A*****“ Mitte September 2017 480 Gramm Kokain (240 Gramm Cocain Reinsubstanz);

III./ Bouchaib S***** zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt zwischen Oktober und Dezember 2017 „in Begleitung der Cennet A*****“ 480 Gramm Kokain (240 Gramm Cocain Reinsubstanz);

IV./ Bouchaib S***** mit zwei im Urteil genannten Mitangeklagten um den 6. April 2018 einen unbekannten Kurier zur Lieferung von 300 Gramm Kokain (150 Gramm Cocain Reinsubstanz) bestimmt, indem sie die Kokainlieferung organisierten, ein im Urteil genannter Mitangeklagter und eine abgesondert verfolgte Person zur Kaufabwicklung in die Niederlande fuhren, während S***** und ein Mitangeklagter vereinbarungsgemäß die Suchtgiftlieferung in S***** in Empfang nahmen;

V./ Abdelilah E*****, Bouchaib S***** und zwei im Urteil angeführte Mitangeklagte am 5. Mai 2018 einen unbekannten Kurier zur Lieferung von 629,9 Gramm Kokain (384,4 Gramm Cocain Reinsubstanz) bestimmt, indem sie die Kokainlieferung organisierten und E***** sowie S***** zur Bezahlung und zwischenzeitigen Übernahme des Suchtgifts in die Niederlande fuhren;

B./ anderen überlassen, und zwar (zu I./ und II./) in einer insgesamt das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, nämlich

I./ Abdelilah E***** insgesamt 929,9 Gramm Kokain (468,4 Gramm Cocain Reinsubstanz) und 450 Gramm Cannabis (36 Gramm THC Reinsubstanz), durch

1./ Verkauf von 300 Gramm Kokain (84 Gramm Cocain Reinsubstanz) und 450 Gramm Cannabis (36 Gramm THC Reinsubstanz) an Cennet A***** und weitere unbekannte Suchtgiftabnehmer;

2./ Weitergabe der unter A./V./ angeführten Kokainmenge an den Suchtgiftkurier;

II./ Bouchaib S***** insgesamt 729,9 Gramm Kokain (412,4 Gramm Cocain Reinsubstanz), durch

1./ Verkauf von 100 Gramm Kokain (28 Gramm Cocain Reinsubstanz) an Michael B***** und weitere unbekannte Suchtgiftabnehmer;

2./ Weitergabe der unter A./V./ angeführten Kokainmenge an den Suchtgiftkurier.

 

Rechtliche Beurteilung

Zur Beschwerde des Bouchaib S***** gegen den Beschluss (ON 442):

Mit Beschluss vom 20. August 2019 (ON 442) wies das Erstgericht – soweit hier von Bedeutung – die am 18. März 2019 im elektronischen Rechtsverkehr angemeldete (ON 420) Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Bouchaib S***** mangels deutlicher und bestimmter Bezeichnung von Nichtigkeitsgründen gemäß § 285a Z 2 StPO zurück.

Mit Schriftsatz vom 4. September 2019 (ON 444) erhob Bouchaib S***** dagegen Beschwerde gemäß § 285b Abs 2 StPO. Er brachte vor, die schriftliche Urteilsausfertigung sei seinem Verteidiger am 18. Juli 2019 zugestellt worden (vgl ON 1, unjournalisierter Auszug aus VJ – Zustellungszeitpunkt gemäß § 89d Abs 2 GOG: 19. Juli 2019), dieser habe die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde am 1. August 2019 im elektronischen Rechtsverkehr fristgerecht und ordnungsgemäß beim Landesgericht Salzburg eingebracht (vgl ON 437 S 1).

Das Beschwerdevorbringen trifft zu. Die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde des Bouchaib S***** wurde daher rechtzeitig im Sinn des § 285 Abs 1 StPO überreicht, weshalb der Beschwerde Folge zu geben und der bekämpfte Beschluss im spruchgemäßen Umfang ersatzlos zu kassieren war.

 

Zu den Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten E***** und Bouchaib S*****:

Den gegen das Urteil gerichteten, von E***** auf Z 5 und 5a und von S***** auf Z 5a jeweils des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerden kommt keine Berechtigung zu.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten E*****:

Entgegen dem zum Schuldspruch B./I./2./ erhobenen Vorwurf der Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall) durch unvollständige Wiedergabe der Aussage des Angeklagten S***** hat das Erstgericht den Inhalt dieser Aussage (vgl ON 294 S 141: „In Utrecht bekamen wir 650 Gramm Kokain für das Geld ... Das Kokain wurde dann von Holland nach S***** geschickt ... In einer Wohnung in Utrecht trafen wir uns dann mit dem Lieferanten A***** ... dieser übergab das Kokain einem Kurier“) im Rahmen der Beweiswürdigung (vgl US 15: „Wir [die Angeklagten S***** und E*****] bekamen das Kokain“) keineswegs in seinen wesentlichen Teilen unrichtig oder unvollständig wiedergegeben (vgl RIS‑Justiz RS0099431 [insb T1, T14]).

Vielmehr bekämpft der Beschwerdeführer mit dem Einwand, aus der „vollständigen Aussage“ ergäbe sich, dass E***** und S***** „bloß anwesend“ gewesen seien und „keinen Mitgewahrsam am Suchtgift erlangt“ hätten, nur die Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung.

Mit ihrer Kritik, das Erstgericht habe hinsichtlich der konstatierten Beteiligung des Beschwerdeführers an der kriminellen Vereinigung durch die beweiswürdigende Erwägung, der Angeklagte E***** habe „sogar aus der Schubhaft mit der Hauptzeugin Kontakt gehalten“ und es widerspreche „gerichtsnotorisch der Realität, dass man in Schubhaft kein Handy haben könne“ (US 13), gegen das Überraschungsverbot verstoßen, verkennt die Tatsachenrüge (Z 5a) den Anfechtungsrahmen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes. Denn das aus Art 6 Abs 3 lit a und b MRK abzuleitende Überraschungsverbot sanktioniert unter dem Aspekt der Z 5a nur überraschende Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen, nicht aber – wie vorliegend – bloß beweiswürdigende Erwägungen (vgl Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 492, 545; RIS‑Justiz RS0120025 [T1, T3]).

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten S*****:

Die gegen den Schuldspruch B./II./2./ ergriffene Tatsachenrüge (Z 5a) schlägt fehl.

Der Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 5a StPO greift seinem Wesen nach erst dann, wenn aktenkundige Beweisergebnisse vorliegen, die nach allgemein menschlicher Erfahrung gravierende Bedenken gegen die Richtigkeit der bekämpften Urteilsannahmen aufkommen lassen. Eine über die Prüfung erheblicher Bedenken hinausgehende Auseinandersetzung mit der Überzeugungskraft von Beweisergebnissen – wie sie die Berufung wegen Schuld des Einzelrichterverfahrens einräumt – wird dadurch nicht eröffnet (RIS‑Justiz RS0119583). Die Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder des Angeklagten ist einer Anfechtung aus Z 5a entzogen (vgl RIS‑Justiz RS0099649). Ebenso wenig kann der Umstand geltend gemacht werden, dass aus den Verfahrensergebnissen auch andere, für den Angeklagten günstigere Schlussfolgerungen gezogen werden könnten (vgl RIS‑Justiz RS0099674).

Indem die Beschwerde bloß nach Maßgabe eigener Beweiswerterwägungen moniert, der Angeklagte habe nur eine „untergeordnete Rolle“ gehabt, sei bei der Suchtgiftübergabe „nur dabei gewesen“, habe lediglich eine „Telefontätigkeit“ ausgeübt, das Gericht vertrete eine „lebensfremde Ansicht“ und es sei „nicht nachvollziehbar, warum der Angeklagte in diesem Punkt die Unwahrheit sagen sollte“, verfehlt sie die dargelegten Anfechtungsvoraussetzungen.

Mit dem weiteren Vorbringen (der Sache nach Z 10), der Angeklagte S***** wäre „lediglich wegen B./II./1./ nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2 SMG zu bestrafen gewesen“ und es lägen „die Voraussetzungen der Privilegierung des § 28a Abs 3 SMG vor“, weil er „seit zehn Jahren vor der Tat stark drogenabhängig war und die Tat als Beschaffungskriminalität für den persönlichen Gebrauch“ zu qualifizieren sei, legt der Beschwerdeführer prozessordnungswidrig nicht dar, welche – nach der Aktenlage indizierten – Konstatierungen vom Schöffengericht noch zu treffen gewesen wären, die die begehrte rechtliche Konsequenz ermöglicht hätten (RIS‑Justiz RS0118580; vgl auch Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 9.210).

Soweit der Rechtsmittelantrag des Angeklagten S***** auf gänzliche Urteilsaufhebung abzielt, das Urteil inhaltlich jedoch nur im Schuldspruch B./II./2./ angefochten wurde, blieb die Nichtigkeitsbeschwerde im darüber hinausgehenden Umfang mangels deutlicher und bestimmter Bezeichnung von angeblich Nichtigkeit bewirkenden Umständen unausgeführt (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO).

Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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