OGH 7Ob68/19d

OGH7Ob68/19d24.4.2019

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person P* S*, geboren am * 1958, *, vertreten durch Mag. Johann Huber, Rechtsanwalt in Melk, Rechtsbeistand im Verfahren Dr. Franz Amler, Rechtsanwalt in St. Pölten, über den Revisionsrekurs des Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 19. Februar 2019, GZ 23 R 41/19f‑194, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Melk vom 16. Jänner 2019, GZ 17 P 40/17w‑185, bestätigt wurde,den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E124994

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Betroffene leistete der ersten Ladung zur Erstanhörung nicht Folge. Zwei weitere Versuche einer Erstanhörung durch Hausbesuche, von denen einer unangekündigt war, blieben ebenfalls erfolglos. Schließlich kam der Betroffene einer neuerlichen Ladung zur Erstanhörung nach und erschien beim Erstgericht in Begleitung seiner damaligen Verfahrenshelferin, verweigerte allerdings ein Gespräch mit der Erstrichterin.

Das Erstgericht setzte das Verfahren fort und beauftrage einen medizinischen Sachverständigen mit der Gutachtenserstattung. Der Betroffene leistete der Ladung des Sachverständigen ebensowenig Folge wie einer Ladung zur Befundaufnahme vor dem Erstgericht. Der Sachverständige erstattete daraufhin ein – dem Betroffenen für den Fall seiner verweigerten Mitwirkung auch angekündigtes – Aktengutachten. Nach Gutachtenszustellung räumt das Erstgericht eine – ungenutzt gebliebene – Frist für einen Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ein.

Das Erstgericht bestellte sodann – ohne vorherige mündliche Verhandlung, die es nicht für erforderlich erachtete – dem Betroffenen Rechtsanwalt Dr. Franz Amler zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter für die Vertretung gegenüber ordentlichen Gerichten, Verwaltungsbehörden und Gerichten des öffentlichen Rechts, ordnete gemäß § 242 Abs 2 ABGB im Zusammenhang mit rechtsgeschäftlichen Handlungen oder Verfahrenshandlungen hinsichtlich dieser Behörden einen Genehmigungsvorbehalt an und sprach aus, dass die Erwachsenenvertretung vorbehaltlich der vorzeitigen Beendigung oder der Einleitung eines Erneuerungsverfahrens gemäß § 128 AußStrG am 16. 1. 2022 ende.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen nicht Folge. Es ging in Übereinstimmung mit dem Erstgericht davon aus, dass der Betroffene an einer psychischen Erkrankung leide und deshalb zahlreiche, aussichtslose gerichtliche und behördliche Verfahren eingeleitet habe, aufgrund derer er sich laufend der Gefahr von Vermögensnachteilen aussetze.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Nach der Rechtsprechung zur Rechtslage vor dem Erwachsenenschutzgesetz sei ein Sachverständigengutachten ohne persönliche Befundaufnahme und Untersuchung des Betroffenen als nichtig erachtet worden. Da nunmehr eine zwangsweise Vorführung des Betroffenen nicht mehr zulässig sei, müsse auch die Einholung eines sogenannten „Aktengutachtens“ gestattet sein. Da zu dieser Frage infolge Gesetzesänderung noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege, sei der ordentliche Revisionsrekurs zuzulassen gewesen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Betroffenen wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Verfahrenseinstellung. Hilfsweise stellt der Betroffene einen Aufhebungsantrag.

Der Rechtsbeistand im Verfahren und nunmehr bestellte gerichtliche Erwachsenenvertreter erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Revisionsrekurs des Betroffenen nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

Die Revisionsrekursbeantwortung ist unzulässig.

Der Betroffene macht unter allen genannten Rechtsmittelgründen zusammengefasst geltend, dass auf Basis eines Aktengutachtens und ohne mündliche Verhandlung keine Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters erfolgen dürfe. Dieser Rechtsansicht ist nicht zu folgen:

1. Der Betroffene war vor dem Erstgericht durch einen Verfahrenshelfer vertreten und es war ein Rechtsbeistand im Verfahren bestellt. Der Vertreter des Betroffenen hat das Sachverständigengutachten zugestellt und die Möglichkeit zur Erhebung eines Antrags auf Gutachtenserörterung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung eingeräumt erhalten. Das Erstgericht hat demnach mit der Verwertung des Sachverständigengutachtens seiner Entscheidung keine Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt, zu denen sich der Betroffene nicht äußern konnte (vgl RS0074920; RS0005915; zur Zulässigkeit eines „Aktengutachens“ auf der Grundlage des Außerstreitgesetzes 1854 vgl 4 Ob 611/87). Die vom Betroffenen behauptete „Nichtigkeit“ infolge Verletzung seines rechtlichen Gehörs liegt daher nicht vor.

2. Soweit sich das Rekursgericht und der Betroffene auf die Entscheidungen zu 7 Ob 278/08w (= SZ 2009/17) und 1 Ob 523/93 (= RZ 1994/55) stützen, sind diese deshalb nicht einschlägig, weil sie auf einer nicht mehr geltenden Rechtslage beruhen. Nach dem Inkrafttreten des 2. Erwachsenenschutz-Gesetzes, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), mit 1. 7. 2018 gilt Folgendes:

2.1. Nach § 120a AußStrG idF 2. ErwSchG hat das Gericht einen Sachverständigen zu bestellen, wenn es dies für erforderlich hält oder die betroffene Person dies beantragt. Ein Sachverständigengutachten im Bestellungsverfahren ist nach geltender Rechtslage nicht mehr unbedingte Voraussetzung für die Bestellung eines Erwachsenenvertreters, wenn etwa durch andere Gutachten oder Befunde der psychische und gesundheitliche Zustand der betroffenen Person hinreichend erhoben ist (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  67). Allein aus der Verwendung eines Aktengutachtens kann daher die Mangelhaftigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters nicht abgeleitet werden, insbesondere wenn sich der Betroffene der Befundaufnahme entzieht.

2.2. Nach § 121 Abs 1 Satz 1 AußStrG idF 2. ErwSchG hat das Gericht über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters mündlich zu verhandeln, wenn dies das Gericht für erforderlich hält oder die betroffene Person dies beantragt. Nach geltender Rechtslage ist daher nicht mehr stets zu verhandeln, sondern bloß dann, wenn dies die betroffene Person (oder ihr Rechtsbeistand in ihrem Namen) beantragt oder es das Gericht für erforderlich hält (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  67). Aus dem Unterbleiben einer weder vom Erstgericht noch vom Betroffenen für erforderlich erachteten mündlichen Verhandlung kann daher ebenfalls nicht die Mangelhaftigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters abgeleitet werden.

3. Substanziell kann die Erstattung eines Aktengutachtens ohne vorherige Untersuchung des Betroffenen durch den Sachverständigen oder auch das Unterbleiben einer nicht zwingend notwendigen Verhandlung – von einer hier nicht vorliegenden Konstellation einer Gehörverletzung abgesehen (vgl dazu Punkt 1.) – nur einen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens begründen, den das Rekursgericht verneint hat. Ein vom Rekursgericht verneinter Verfahrensmangel erster Instanz kann auch im Außerstreitverfahren in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (RS0030748; RS0050037). Dieser Grundsatz wird nach der Rechtsprechung nur „durchbrochen“, wenn es das Wohl des Kindes erfordert, was im Regelfall in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren von Bedeutung sein kann (RS0030748 [T6]). Selbst wenn diese „Durchbrechung“ auch im Verfahren über die Bestellung eines Erwachsenenvertreters relevant sein könnte (offen lassend 1 Ob 97/12i), ist nicht erkennbar, welche Maßnahmen das Erstgericht – zur sachgerechten Entscheidungsfindung zum Wohl des Betroffenen – noch hätte ergreifen sollen und der Betroffene zeigt solche in seinem Rechtsmittel auch nicht auf. Dem Betroffenen ist immer wieder die Möglichkeit zur Mitwirkung im Verfahren geboten worden. Er hat diese entweder nicht wahrgenommen oder wenn er vor Gericht erschienen ist, das Gespräch mit der Erstrichterin verweigert und stattdessen – wie schon gegenüber anderen Gerichten und Behörden – mit der Einbringung unzähliger, unverständlicher Eingaben reagiert. Genau dieses Verhalten war Anlass für die Verfahrenseinleitung und ist anhand der Aktenlage umfangreich dokumentiert, sodass dem Sachverständigen für die Gutachtenserstattung ausreichende Beurteilungsgrundlagen zur Verfügung standen. Der Betroffene vermag für den gerade hier zu beurteilenden Bedarf nach Bestellung und dem gegebenenfalls maßgeblichen Wirkungsbereich des gerichtlichen Erwachsenenvertreters keine Umstände aufzuzeigen, zu denen er im Zuge einer persönlichen Befragung kooperationsbereit gewesen wäre und die zu einer maßgeblichen Verbreiterung der Gutachtens- und Entscheidungsgrundlagen beitragen hätten können. Ein zum Wohl des Betroffenen wahrzunehmender Verfahrensmangel ist daher nicht erkennbar.

4. Zusammengefasst folgt:

Nach § 120a AußStrG idF 2. ErwSchG ist ein Sachverständigengutachten im Bestellungsverfahren nicht mehr unbedingte Voraussetzung für die Bestellung eines Erwachsenenvertreters. Daher kann aus der Verwendung eines Aktengutachtens allein – von Fällen einer Gehörverletzung abgesehen – die Mangelhaftigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters nicht abgeleitet werden. Gleiches gilt im Hinblick auf § 121 Abs 1 AußStrG idF 2. ErwSchG für das Unterbleiben einer nicht beantragten und vom Gericht nicht für erforderlich erachteten mündlichen Verhandlung. Die Einholung eines bloßen Aktengutachtens und das Unterbleiben einer nicht erforderlichen mündlichen Verhandlung könnten nur dann einen noch in dritter Instanz allenfalls wahrzunehmenden erstinstanzlichen Verfahrensmangel begründen, wenn daraus eine dem Wohl des Betroffenen nachteilige Beschränkung der Entscheidungsgrundlage erkennbar wird. Da diese Voraussetzungen hier nicht vorliegen, erweist sich der Revisionsrekurs als nicht berechtigt.

5. In den Materialien (ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP  66) heißt es zu § 119 AußStrG idF 2. ErwSchG: „Der Rechtsbeistand soll – anders als im geltenden Recht – nicht eigens als Adressat von Verfahrensrechten angeführt sein, weil er – wie andere Verfahrensvertreter auch – seine Rechte von den Rechten der betroffenen Partei ableitet. Als Stellvertreter im Verfahren kann er im Namen und im Interesse der Partei und an deren Stelle Verfahrenshandlungen vornehmen. (…).“ Mit seiner Revisionsrekursbeantwortung begehrt der Rechtsbeistand im Verfahren und nunmehr bestellte Erwachsenenvertreter, dem Rechtsmittel des Betroffenen nicht Folge zu geben. Damit verfolgt er nicht die vom (durch einen Verfahrenshelfer vertretenen) Betroffenen wirksam bekundeten Interessen, sondern tritt diesen entgegen. Dazu ist der Rechtsbeistand im Verfahren und nunmehr bestellte Erwachsenenvertreter aber nicht legitimiert, weshalb seine Revisionsrekursbeantwortung zurückzuweisen war (vgl dazu auch 9 Ob 89/18f).

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