European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0130OS00135.17B.0314.000
Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Elisabeth J***** sowie aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in den Schuldsprüchen wegen Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 vierter Fall StGB (I), demzufolge auch in den Strafaussprüchen sowie im Adhäsionserkenntnis aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Leoben verwiesen.
Der Angeklagte Willibald J***** mit seinen Rechtsmitteln und die Angeklagte Elisabeth J***** mit ihrer Berufung werden auf diese Entscheidung verwiesen.
In Bezug auf den Schuldspruch wegen des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (II) wird die Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Elisabeth J***** zurückgewiesen.
Ihr fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden Willibald J***** und Elisabeth J***** jeweils des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 vierter Fall StGB (I), Letztere überdies des Vergehens der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (II) schuldig erkannt.
Danach haben in Ju*****
(I) Willibald J***** und Elisabeth J***** vom Herbst 2014 bis zum 14. November 2016 gegen ihre am 21. Oktober 2004 geborene, sohin unmündige Tochter Melanie J***** „in zahlreichen Angriffen“ länger als ein Jahr fortgesetzt Gewalt ausgeübt, nämlich
1) Willibald J***** durch Schläge mit der flachen Hand gegen Gesicht und Gesäß, zwei Schläge mit einem Gürtel gegen das Gesäß und heftiges Ziehen an den Ohren, was Rötungen zur Folge hatte, sowie
2) Elisabeth J***** durch Schläge gegen Gesicht und Gesäß sowie Fußtritte, was Rötungen zur Folge hatte,
(II) Elisabeth J***** überdies im Jahr 2016 ihre Tochter Carina J***** durch gefährliche Drohung mit zumindest einer Verletzung am Körper zur Äußerung eines Essenswunsches zu nötigen versucht, indem sie ein Küchenmesser gegen sie richtete und dabei sagte: „Wennst nicht sagst, was du zum Essen haben willst, dann ist was los“.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus Z 3, 5 und 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Elisabeth J***** ist teilweise im Recht.
Die Subsumtionsrüge (Z 10) zeigt zutreffend auf, dass die tatrichterlichen Konstatierungen die Subsumtion der dem Schuldspruch I zugrunde liegenden Taten als Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nicht tragen.
Bei der Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit nach § 107b StGB ist nämlich nach ständiger Judikatur (13 Os 143/11w, SSt 2011/69; RIS‑Justiz RS0127377, jüngst 13 Os 23/17g) und herrschender Lehre ( Schwaighofer in WK 2 StGB § 107b Rz 23, Winkler SbgK § 107b Rz 103 ff, jeweils mwN) stets eine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung der Faktoren Dauer, Dichte und Intensität der Gewaltausübung vorzunehmen, womit eine besonders starke Ausprägung eines dieser Faktoren unter dem Aspekt der Subsumtion eine Reduktion des Gewichts der beiden übrigen Faktoren zulässt.
Insoweit schafft die angefochtene Entscheidung nicht die erforderliche Sachverhaltsbasis, weil ihr Feststellungen zur Dichte der Angriffe fehlen.
Der Schuldspruch I/2 war daher in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Elisabeth J***** sowie in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur gemäß § 285e StPO schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort aufzuheben, womit sich das Eingehen auf die (nur diesen Schuldspruch betreffende) Mängelrüge (Z 5) dieser Angeklagten erübrigt.
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass auch der Schuldspruch des Angeklagten Willibald J***** (I/1) an dem aufgezeigten Rechtsfehler mangels Feststellungen leidet, aus welchem Grund dieser Schuldspruch ebenfalls schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort aufzuheben war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm § 285e StPO). Hierauf war der genannte Angeklagte mit seiner (auf § 281 Abs 1 Z 5 und 5a gestützten, diesen Rechtsfehler nicht aufgreifenden) Nichtigkeitsbeschwerde zu verweisen.
Nicht im Recht ist die Verfahrensrüge (Z 3) der Angeklagten Elisabeth J*****, die in der in der Hauptverhandlung vorgenommenen Verlesung (ON 32 S 22) des Berichts der Bezirkshauptmannschaft Murtal vom 18. November 2016 (ON 2 S 43 bis 47) eine Verletzung des Verlesungsverbots des § 252 Abs 1 StPO erblickt, weil darin Angaben der Zeuginnen Carina J***** und Leonie J***** enthalten seien und diesbezüglich keiner der Erlaubnistatbestände der Z 1 bis 4 der genannten Norm erfüllt sei.
Die Beschwerde hält zwar zutreffend fest, dass sich § 252 Abs 1 StPO, soweit hier von Interesse, auf amtliche Schriftstücke bezieht, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind. Sie übersieht aber, dass darunter Protokolle, Amtsvermerke und andere vom Gericht, von der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei errichtete Schriftstücke zu verstehen sind, in denen – gezielt – Zeugenaussagen festgehalten sind ( Kirchbacher , WK‑StPO § 252 Rz 28, 30, 34 und 37 mwN).
Die hier angesprochenen Berichte von Sozialarbeitern über ihnen gegenüber in dieser Eigenschaft gemachte Mitteilungen fallen somit nicht unter das Verbot des § 252 Abs 1 StPO, vielmehr unter das Vorkommensgebot des § 252 Abs 2 StPO (vgl RIS‑Justiz RS0098403 sowie Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 30).
Hinsichtlich des Schuldspruchs II war die Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Elisabeth J***** somit gemäß § 285d Abs 1 StPO schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen.
Die Aufhebung der Schuldsprüche I/1 und I/2 hat die Aufhebung der Strafaussprüche sowie des Adhäsionserkenntnisses zur Folge, worauf die Angeklagten mit ihren Berufungen zu verweisen waren.
Der Kostenausspruch, der die amtswegige Maßnahme nicht umfasst, gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO (Lendl, WK‑StPO § 390a Rz 7 und 12).
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