European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0140OS00107.17T.1212.000
Spruch:
In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Beschwerdeverfahrens in Bezug auf den Beschluss des Landesgerichts Leoben vom 29. März 2016, GZ 12 Hv 44/05i‑27, verfügt, der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 19. Mai 2016, AZ 8 Bs 167/16v, aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung über die Beschwerde des Andreas W***** an dieses Gericht verwiesen.
Gründe:
Mit (gekürzt ausgefertigtem) Urteil des Landesgerichts Leoben vom 31. Mai 2005, GZ 12 Hv 44/05i‑10, wurde Andreas W***** des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten verurteilt.
Mit Beschluss vom 29. März 2016, GZ 12 Hv 44/05i‑27, wies das erkennende Gericht die Anträge des Verurteilten auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach § 353 StPO und Beigebung eines Verteidigers gemäß § 61 Abs 2 StPO (ON 26) ab.
Diese Entscheidung wurde Andreas W***** am 8. April 2016 in der Justizanstalt Wien-Mittersteig, in der er sich zumindest seit Februar 2013 zu AZ 12 Hv 85/11b des Landesgerichts Leoben im Maßnahmenvollzug (§ 21 Abs 2 StGB) befand, zugestellt (Zustellnachweis in ON 27).
Mit per 21. April 2016 datierter Eingabe (ON 30) erhob der Verurteilte dagegen Beschwerde, die am 26. April 2016 zur Post gegeben wurde (vgl Kuvert bei ON 30).
Schon an diesem Tag langte beim Erstgericht eine weitere, unter Bezugnahme auf das eben genannte Rechtsmittel als „Richtigstellung“ bezeichnete handschriftliche Eingabe des Andreas W***** vom 24. April 2016 ein (ON 28).
Mit Beschluss vom 19. Mai 2016, AZ 8 Bs 167/16v (ON 34), wies das Oberlandesgericht Graz die Beschwerde vom 21. April 2016 gemäß § 89 Abs 2 StPO als (gemeint:) verspätet zurück, weil es aufgrund des auf dem Eingabekuvert befindlichen Postvermerks davon ausging, dass das Schreiben erst am 26. April 2016, sohin nach Ablauf der 14‑tägigen Beschwerdefrist (am 22. April 2016; § 88 Abs 1 StPO), eingebracht worden wäre. Ebenso verfuhr das Beschwerdegericht mit der Eingabe vom 24. April 2016, die es auf der gleichen Sachverhaltsgrundlage als eigenständige – damit gleichfalls verspätet eingebrachte – Beschwerde gegen den oben bezeichneten Beschluss des Landesgerichts Leoben wertete.
Erst in einem an das Bundesministerium für Justiz gerichteten, als „Beschwerde“ titulierten Schreiben vom 1. Juni 2016 wies Andreas W***** darauf hin, dass er seine Beschwerdeschrift vom 21. April 2016 bereits am 22. April 2016 an einen Justizwachebeamten der Justizanstalt Wien-Mittersteig zur Weiterleitung übergeben habe, was die Anstaltsleiterin über Ersuchen des Bundesministeriums für Justiz unter Anschluss entsprechender Aufzeichnungen mit Note vom 3. Oktober 2017 bestätigte.
Rechtliche Beurteilung
Diese (nachträglich hervorgekommenen) Urkunden wecken – wie die Generalprokuratur in ihrem gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten Antrag zutreffend aufzeigt – erhebliche Bedenken an den Annahmen des Oberlandesgerichts, die Beschwerde des Verurteilten vom 21. April 2016 sei verspätet eingebracht worden und dessen davor beim Erstgericht eingelangte Eingabe vom 24. April 2016 sei nicht als deren Ergänzung oder Korrektur, sondern als selbständige und damit gleichfalls verspätete Beschwerde zu werten:
Bei rechtzeitiger Abgabe eines Rechtsmittels einer in Haft befindlichen Person an die Leitung der Justizanstalt ist die Rechtsmittelfrist auch dann gewahrt, wenn es erst nach Fristablauf weitergeleitet wird (RIS‑Justiz RS0106085 [T1, T3]; Murschetz , WK‑StPO § 84 Rz 9).
Vorliegend fiel der letzte Tag der gemäß § 88 Abs 1 StPO 14‑tägigen Beschwerdefrist auf den 22. April 2016. Die Weiterleitung der an diesem Tag einem Beamten der Justizanstalt übergebenen Beschwerde vom 21. April 2016 erst am 26. April 2016 kann dem in Haft befindlichen Verurteilten nicht zum Nachteil gereichen (erneut RIS‑Justiz RS0106085).
Somit ist eine (nicht vom Obersten Gerichtshof getroffene) Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv unrichtigen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler anzulasten ist. Da die so entstandene Benachteiligung des Verurteilten auf anderem Weg nicht behoben werden kann, war dies durch Verfügung der außerordentlichen Wiederaufnahme auf die im Spruch ersichtliche Weise in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO zu sanieren
(zur analogen Anwendung dieser Bestimmung auch auf Beschlüsse vgl Ratz, WK-StPO § 362 Rz 4 und § 292 Rz 16; RIS-Justiz RS0117312 [T3, T4, T8], RS0117416 [T6]).
Bei der Entscheidung über die Beschwerde des Andreas W***** wird das Oberlandesgericht das ergänzende Vorbringen im Schreiben vom 24. April 2016 zu berücksichtigen haben (§ 89 Abs 2b StPO; RIS‑Justiz RS0118014).
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