OGH 10ObS116/17g

OGH10ObS116/17g10.10.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 14. Juni 2017, GZ 12 Rs 39/17t‑13, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 6. April 2017, GZ 28 Cgs 139/16w‑9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00116.17G.1010.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat den Beruf eines Behindertenfachbetreuers erlernt und übt ihn seit 1. 9. 1996 bei der A***** GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden (Montag bis Freitag von 8:00 Uhr bis 15:30 Uhr) aus. Die Aufgabenstellung des Klägers umfasst die Kontrolle und Betreuung von behinderten Personen bei deren – als reine Beschäftigungstherapie anzusehenden – Arbeitstätigkeiten. Gemeinsam mit einem Kollegen betreut der Kläger durchschnittlich 11 Personen in der sogenannten „Montagegruppe“. Es werden kleine Aufgaben verrichtet, wie beispielsweise Säckchen mit Schrauben befüllt. Diese Gruppe umfasst Personen mit einem Pflegebedarf der Stufen 3 oder 4 nach dem Bundespflegegeldgesetz (BPGG). Höherer Pflegebedarf ist nicht gegeben, Schwerstbehinderte sind nicht zu betreuen. Die Aufgabe des Klägers besteht nicht nur in der Verantwortung für die rechtzeitige Produktfertigstellung, sondern auch darin, allenfalls auftretende Konflikte zwischen den Gruppenmitgliedern zu lösen, die zu betreuenden Personen im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand zu überwachen und bei epileptischen Anfällen oder Kreislaufkollapsen unmittelbar einzuschreiten. Allenfalls muss der Kläger Personen auch reinigen (duschen) und neu anziehen oder ihnen Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme leisten. Fallweise muss er die zu betreuenden Personen auf die Toilette heben, bis vor vier Jahren musste er sie auch aus und in den Zubringerbus heben. Der Kläger verbraucht während eines achtstündigen Arbeitstags 1.692 kcal.

Mit Bescheid vom 13. 10. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten für den Zeitraum 1. 7. 1997 bis 31. 8. 2016 ab.

In seiner Klage bringt der Kläger vor, es seien Schwerarbeitszeiten gemäß § 1 Abs 1 Z 5 der SchwerarbeitsV gegeben. Die mit seiner Tätigkeit verbundene psychische Belastung sei mit jener bei den in der SchwerarbeitsV demonstrativ genannten Gruppen auftretenden psychischen Belastung vergleichbar, weil er die ihm anvertrauten Personen mit all ihren unterschiedlichen körperlichen und geistigen Einschränkungen psychisch zu betreuen habe. Eine niedrigere Pflegestufe bedeute nicht, dass auch in Bezug auf die Betreuung in der Gruppe ein niedriger Bedarf bestehe. Es sei ein hoher Motivationsaufwand erforderlich, damit die behinderten Personen ihre Arbeiten verrichten; anschließend müsse er die ordnungsgemäße Erledigung kontrollieren. Bei immer wieder auftretenden epileptischen Anfällen habe er Erste Hilfe zu leisten, damit es zu keiner Verletzung komme. Bei Wutausbrüchen habe er besänftigend und schlichtend einzugreifen und Schutzmaßnahmen für sich selbst und die Gruppenmitglieder zu ergreifen.

Die beklagte Partei wendete zusammengefasst ein, es liege keine „besonders belastende“ Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV vor.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Schwerarbeit im Sinne des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV (schwere körperliche Arbeit) liege nicht vor, weil bei einem achtstündigen Arbeitstag nicht mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden. Die Tätigkeit des Klägers sei auch nicht als besonders belastende Schwerarbeit im Sinne des § 1 Abs 1 Z 5 der SchwerarbeitsV zu qualifizieren, er leiste nicht überwiegend Pflegetätigkeiten. Die bei der Betreuung von Personen mit verschiedenen Einschränkungen anfallenden Tätigkeiten, die in einer geregelten Tagesstruktur betreut werden und dort in einer Beschäftigungstherapie stehen, seien nicht mit Pflegetätigkeiten an Schwerstkranken in der Hospiz- oder Palliativmedizin, einer Langzeitpflege an Pfleglingen mit einem Pflegebedarf zumindest der Stufe 5 nach dem Bundespflegegeldgesetz oder der Pflege demenzkranker Personen gleichzuhalten.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Nach der Absicht des Gesetzgebers seien nur bestimmte Formen von besonders belastender Schwerarbeit und nicht jede Schwerarbeit schlechthin zu berücksichtigen. Der Verordnungsgeber habe mit den in § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV genannten Pflegekräften eine bestimmte Gruppe unter den medizinischen Berufen ausdrücklich herausgegriffen und in die SchwerarbeitsV einbezogen. Wie sich aus den wiederholten Verweisen auf die Regelungen des Bundespflegegeldgesetzes ergebe, verstehe der Verordnungsgeber als „berufsbedingte Pflege“ nur die Pflege durch Pflegefachkräfte. Eine nicht mit der Grund‑ und Körperpflege verbundene psychische Belastung führe nicht zur Qualifikation als Schwerarbeit. Die Tätigkeit des Klägers – möge sie auch mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden sein – erfülle daher nicht die in § 1 Abs 1 Z 5 der SchwerarbeitsV genannten Voraussetzungen.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Abgrenzung der „berufsbedingten Pflege“ im Sinne des § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV zu der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit als Behindertenfachbetreuer bestehe.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Der Revisionswerber vertritt den Standpunkt, auch die Behindertenbetreuung im Sinne einer nicht mit der Grund‑ und Körperpflege selbst verbundenen Tätigkeit führe zur Qualifikation als Schwerarbeit. Maßstab könne nur jeweils die mit der Tätigkeit konkret verbundene psychische Belastung sein. Diese sei jeweils im Einzelfall zu prüfen, ohne dass auf eine bestimmte in der SchwerarbeitsV aufgezählte Arbeitnehmergruppe abzustellen sei.

Dazu ist auszuführen:

1.1 § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 4 APG definieren Schwerarbeit im Wesentlichen in gleicher Weise mit „Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht werden“ bzw unter „psychisch oder physisch besonders belastenden Arbeitsbedingungen“. In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage zum APG wird ausdrücklich betont, dass durch diese Formulierung die Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck gebracht werde, dass nur die Formen von besonders belastender Schwerarbeit und nicht jede Art der Schwerarbeit schlechthin in diesem Bereich berücksichtigt werden soll (ErläutRV 653 BlgNR 22. GP  9). Sowohl nach § 607 Abs 14 ASVG als auch nach § 4 Abs 4 APG soll die Festlegung, welche Tätigkeiten als Schwerarbeit gelten, durch Verordnung erfolgen.

1.2 § 1 Abs 1 der VO der Bundesministerin für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz über besonders belastende Berufstätigkeiten (SchwerarbeitsV, BGBl II 2006/104 idF BGBl II 2013/201) definiert die „besonders belastenden Berufstätigkeiten“ als Tätigkeiten, die geleistet werden …

5. „zur berufsbedingten Pflege von erkrankten oder behinderten Menschen mit besonderem Behandlungs- oder Pflegebedarf, wie beispielsweise in der Hospiz‑ oder Palliativmedizin, …“.

1.3 Nach den Erläuterungen zum Entwurf der SchwerarbeitsV (abgedruckt in Teschner/Widlar/Pöltner , ASVG, 96. Erg.-Lfg, SchwerarbeitsV Anm 10) erfasst § 1 Abs 1 Z 5 des Entwurfs „die Hospiz- oder palliativmedizinische Pflege von Schwerstkranken und die Betreuung von Pfleglingen mit einem Pflegebedarf zumindest der Stufe 5 nach § 4 Abs 2 des Bundespflegegeldgesetzes. Dabei handelt es sich um pflegebedürftige Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist. Davon umfasst ist u.a. auch die Pflege von Demenzerkrankten im geriatrischen Bereich“.

1.4 Nach dem von den Krankenversicherungsträgern in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz und der Pensionsversicherungs-anstalt erarbeiteten „Schwerarbeitsverordnung Fragen‑Antworten‑Katalog“ (abgedruckt in ARD 5811/7/2007, 5812/7/2007, 5813/7/2007 und 5814/9/2007) liegt berufsbedingte Pflege vor, wenn die Pflege im Rahmen einer Berufstätigkeit von einer hiezu ausgebildeten Person unmittelbar durchgeführt wird (Frage 34). Schwerarbeit liegt vor, wenn die Pflege im Rahmen einer Berufsausübung durch entsprechend qualifiziertes Pflegepersonal geleistet wird, wobei regelmäßig Personen gepflegt werden müssen, die über einen erhöhten Behandlungs‑ oder Pflegebedarf verfügen (Pflege von Schwerstkranken, von Demenzerkrankten, Pfleglingen mit einem Pflegebedarf zumindest zur Stufe 5 des Bundespflegegeldgesetzes). Schwerarbeit liegt auch bei der Pflege von Pfleglingen mit unterschiedlichem Pflegeaufwand vor, wenn in der Einrichtung oder auf der betroffenen Station regelmäßig Personen gepflegt werden müssen, die über einen erhöhten Behandlungs‑ oder Pflegebedarf verfügen (Frage 35). § 1 Abs 1 Z 5 der SchwerarbeitsV findet nach dem unter http://www.vaeb.at/cdscontent/lead?contentid=10008.592274 abrufbaren „Schwerarbeitsverordnung Fragen‑Antworten‑Katalog“ hingegen dann nicht Anwendung, wenn Mitarbeiter in einer Behindertenwerkstätte unter anderem Jugendliche betreuen, die Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 haben, wenn sie diese Personen in erster Linie bei Arbeiten im Zusammenhang mit der Herstellung von Werkstücken betreuen und Arbeiten im Zusammenhang mit Grund‑ und Körperpflege nur im geringen zeitlichen Ausmaß durchgeführt werden. Es sollen nur jene Personen unter diese Ziffer fallen, die tatsächlich und zumindest während der Hälfte der Normalarbeitszeit Pflegetätigkeiten (unmittelbarer Kontakt mit den Pfleglingen) erbringen und jedenfalls über eine entsprechende Befähigung bzw Ausbildung für die Pflege (Grund‑ und Körperpflege) verfügen (dort Frage 42).

2.1 In der Rechtsprechung wurde davon ausgegangen, dass die SchwerarbeitsV ganz allgemein nicht auf konkrete Berufe abstellt, sondern auf berufsbedingt belastende Tätigkeiten. Der Grund hiefür liegt in den unterschiedlichen Tätigkeiten innerhalb eines Berufsbildes, die – je nach Anforderungsprofil – mehr oder weniger belastend sind. Innerhalb der Berufsgruppe der medizinischen Berufe hat der Gesetzgeber aber bestimmte – als besonders belastend angesehene – Pflegetätigkeiten herausgenommen. Aus der Verwendung des Begriffs „berufsbedingte Pflege“ ergibt sich, dass der Gesetzgeber als Indikator für das besondere Ausmaß der psychischen Belastung in § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV an den besonderen Behandlungs‑ oder Pflegebedarf der Patienten und deren besonders schwierige Lebenssituation anknüpft (beispielsweise Pflegetätigkeiten an Schwerstkranken in der Hospiz- oder Palliativmedizin). Unter die SchwerarbeitsV fällt auch die berufsbedingte Pflege von Personen mit einem Pflegebedarf zumindest der Stufe 5 nach § 4 Abs 2 BPGG, also von Personen, deren Pflegebedarf längerfristig andauert („Langzeitpflege“) und bei denen ein außergewöhnlicher Pflegebedarf gegeben ist (10 ObS 149/12b, SSV‑NF 26/86; Milisits , Schwerarbeitsverordnung [2008], 29).

2.2 Maßgeblich ist somit die berufsbedingte Pflege in unmittelbarem Kontakt mit dem Patienten mit erhöhtem Pflegeaufwand und dessen besonders schwieriger Lebenssituation ( Rainer/Pöltner in SV‑Komm [166. Lfg] § 4 APG Rz 179; siehe auch Brandstetter/Prohaska , Berufsbedingte Pflege – Schwerarbeit? ÖZPR 2016/98, 164; Milisits , Neueste OGH‑ und EuGH‑Judikatur im Bereich „Sozialversicherung“, ZAS 2009/18, 102 [104]). Zudem muss die unmittelbare Pflege am Patienten – zeitlich gesehen – überwiegend erbracht werden (10 ObS 149/12b, SSV‑NF 26/86).

3. Im vorliegenden Fall bestehen die Tätigkeiten des Klägers als in einer Werkstätte eingesetzter Behindertenbetreuer nicht überwiegend in Pflegetätigkeiten unmittelbar am Patienten, sondern in erster Linie in der Betreuung und Kontrolle behinderter Personen im Zusammenhang mit deren Beschäftigungstherapie bei der Durchführung diverser kleinerer Montagearbeiten. Neben dieser – im Vordergrund stehenden Tätigkeit – umfasst die Aufgabe des Klägers Arbeiten im Zusammenhang mit der Körperpflege und der Nahrungsaufnahme der zu betreuenden Personen (die jeweils keinen höheren Pflegebedarf als jenen der Stufe 3 oder 4 nach dem BPGG aufweisen), indem er sie fallweise auf die Toilette hebt, sie nach epileptischen Anfällen reinigt und sie bei der Nahrungsaufnahme unterstützt. Wenngleich auch all diese Tätigkeiten in ihrer Gesamtheit mit erheblichen psychischen Belastungen und Stress verbunden sein mögen, sind sie nicht als die vom Gesetzgeber umschriebene „besonders belastende“ Schwerarbeit im Sinne des § 1 Abs 1 Z 5 SchwerarbeitsV zu qualifizieren, weil sie – wie auch schon die Vorinstanzen ausgeführt haben – Pflegetätigkeiten an Schwerstkranken in der Hospiz- oder Palliativmedizin, einer Langzeitpflege an Pfleglingen mit einem Pflegebedarf zumindest der Stufe 5 des BPGG oder der Pflege demenzerkrankter Patienten im geriatrischen Bereich nicht gleichzuhalten sind.

Dies führt zur Bestätigung der Urteile der Vorinstanzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Aktuelle berücksichtigungswürdige Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenersatz nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht bescheinigt und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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