OGH 1Ob61/17b

OGH1Ob61/17b28.6.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr.

 Sailer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj B***** B*****, geboren am 23. 4. 2009, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter I***** F***** B*****, vertreten durch Mag. Michael Leissner, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 16. Februar 2017, GZ 43 R 58/17y‑178, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 9. September 2016, GZ 1 Ps 11/15w‑157, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0010OB00061.17B.0628.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss des Erstgerichts, mit dem dieses unter anderem den Antrag der Mutter, ihr die alleinige Obsorge zu übertragen, abwies, aussprach, dass die Obsorge über den Minderjährigen weiterhin beiden Eltern gemeinsam zukommt, anordnete, dass die hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen im Haushalt des Vaters erfolgt, und der Mutter ein umfangreiches Kontaktrecht einräumte. In Anbetracht der Persönlichkeit der Mutter und der damit einhergehenden Einschränkung ihrer Erziehungsfähigkeit entspreche diese Lösung aus derzeitiger Sicht dem Wohl des Minderjährigen und trage auch dessen Wunsch Rechnung.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, der keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung geltend macht.

Rechtliche Beurteilung

1. Vorweg ist festzuhalten, dass die Mutter nach ihrem Rechtsmittelantrag zwar insgesamt die Entscheidung des Rekursgerichts bekämpft, in Ausführung des Rechtsmittels aber nur noch auf Fragen zurückkommt, die mit der Zuweisung der Obsorge und des Orts der hauptsächlichen Betreuung im Zusammenhang stehen, und damit nicht zu erkennen gibt, inwieweit sie sich inhaltlich noch gegen die übrigen Teile der Rekursentscheidung wendet.

2. Den Schwerpunkt ihrer Rechtsmittelausführungen legt die Mutter auf den Umstand, dass das Erstgericht kein Gutachten aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und/oder Neurologie über ihren Gesundheitszustand eingeholt, sondern sich mit den im Akt erliegenden fachärztlichen Stellungnahmen und Befunden begnügt hat, die in das psychologische Gutachten eingeflossen sind. Abgesehen davon, dass sie diese Unterlagen inhaltlich gar nicht in Frage stellt, übersieht sie, dass sich bereits das Rekursgericht mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt und das Vorliegen der von ihr daraus abgeleiteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz verneint hat. Auch im Außerstreitverfahren gilt grundsätzlich, dass ein vom Rekursgericht verneinter Verfahrensmangel erster Instanz im Revisionsrekurs nicht nochmals geltend gemacht werden kann (RIS‑Justiz RS0050037; RS0030748). Die Voraussetzungen für die Durchbrechung dieses Grundsatzes aus Gründen des Kindeswohls (dazu RIS-Justiz RS0050037 [T8]; RS0030748 [T2; T4]) sind hier nicht schon deshalb verwirklicht, weil der Vater übersiedelt ist und sich dadurch der Schulweg für den Minderjährigen verlängert hat. Nichts anderes gilt, soweit die Mutter auch noch im Verfahren dritter Instanz die Einholung eines Ergänzungsgutachtens durch die kinderpsychologische Sachverständige vermisst. Auch insoweit liegt ein vom Gericht zweiter Instanz begründet verneinter Verfahrensmangel vor, der in dritter Instanz nicht neuerlich geltend gemacht werden kann.

3. Das Rekursgericht hat die inhaltliche Entscheidung des Erstgerichts über die von der Mutter geltend gemachte Befangenheit der kinderpsychologischen Sachverständigen ausdrücklich gebilligt und damit ebenfalls das Vorliegen eines Verfahrensmangels erster Instanz begründet verneint, sodass auch in diesem Umfang eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens vorliegt, die in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden kann (1 Ob 20/13t). Erst recht wird damit keine erforderliche Rechtsfrage ausgesprochen.

4.1 Nach § 180 Abs 2 ABGB hat das Gericht– allenfalls nach Ablauf der Phase einer vorläufigen elterlichen Verantwortung gemäß § 180 Abs 1 ABGB – über die Obsorge endgültig zu entscheiden. Dabei kann es – sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht – beide Elternteile mit der Obsorge betrauen. Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind, hängt ebenso von den Umständen des Einzelfalls ab, wie die Frage, im Haushalt welchen Elternteils bei der Entscheidung nach § 180 Abs 2 ABGB die hauptsächliche Betreuung erfolgen soll. Damit sind im Regelfall keine Rechtsfragen von der Bedeutung gemäß § 62 Abs 1 AußStrG verbunden, wenn ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RIS‑Justiz RS0115719 [besonders T14]; RS0007101 [T8]).

4.2 Eine erhebliche Rechtsfrage meint die Mutter darin zu erkennen, inwiefern deshalb, weil sie wegen der vom Vater durchgesetzten Unterhaltsherabsetzung allenfalls genötigt sein könnte, ihren Wohnsitz außerhalb von Wien zu nehmen, eine mögliche „räumliche Trennung entweder vom Vater oder von der Mutter dem Kindeswohl abträglicher wäre“. Zwar sind im Interesse des Kindeswohls aktenkundige Entwicklungen, die die bisherigen Tatsachengrundlage wesentlich verändern, ungeachtet des im Rechtsmittelverfahren herrschenden Neuerungsverbots auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst nach der

Beschlussfassung erster Instanz eingetreten sind (RIS‑Justiz RS0119918 [T2]; RS0106313 [T2; T3]). Eine Verpflichtung zur Berücksichtigung von bloß möglichen zukünftigen Ereignissen kann daraus aber nicht abgeleitet werden, sodass mit diesen Ausführungen auch keine Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen angesprochen ist, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit zu korrigieren wäre.

5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Stichworte