OGH 6Ob235/16a

OGH6Ob235/16a29.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Dr. Nowotny und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch Gerscha RechtsanwaltsGmbH in Wien, wider die beklagte Partei Stadtgemeinde N*****, vertreten durch Fellner Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 1.245.611,64 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 12. September 2016, GZ 13 R 126/16v‑25, womit über die Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 19. Mai 2016, GZ 3 Cg 112/15k‑21, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0060OB00235.16A.0329.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung

Die klagende Partei wollte 2002 im Gemeindegebiet der beklagten Stadtgemeinde ein Technologiezentrum errichten. In den Jahren 2002 und 2003 kam es zu mehreren Vereinbarungen zwischen den Streitteilen: Die Beklagte übernahm die Haftung als Bürge und Zahler für einen von der Klägerin bei einer Bank aufgenommenen Kredit zur Finanzierung des Erwerbs der für die Errichtung des Technologiezentrums notwendigen Liegenschaften. Weiters verpflichtete sich die Beklagte, einen Teil der Annuitäten dieses Kredits zu bedienen. Zwischen 2004 und 2013 zahlte die Beklagte die von der Klägerin vorgeschriebenen Annuitäten. Schließlich verpflichtete sich die Beklagte, der Klägerin, beginnend mit frühestens 2009 und spätestens 2012, jährlich eine nicht rückzahlbare Förderung in Höhe von zwei Dritteln der von den im Technologiezentrum angesiedelten Betrieben geleisteten Kommunalsteuer zu gewähren. Ab 2014 bediente die Beklagte die Annuitäten nicht mehr und gewährte der Klägerin auch nicht die von dieser verlangte Förderung aus der Kommunalsteuer, weil die Beklagte erwog bzw der Meinung war, es liege eine unionsrechtswidrige Beihilfe vor. Bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz (23. 3. 2016) gab es kein Verfahren im Sinn von Art 107 f AEUV und weder eine Notifikation bei der Europäischen Kommission noch eine Genehmigung der beschriebenen Vereinbarungen durch die Europäische Kommission.

Gegenstand der am 17. 9. 2015 eingebrachten Klage ist ein mit rund 1.200.000 EUR beziffertes, der Höhe nach außer Streit stehendes Klagebegehren, womit die von der Beklagten ab 2014 nicht geleisteten Annuitätenbeiträge sowie die nicht geleistete Förderung aus der Kommunalsteuer begehrt werden. Die Haftung der Beklagten als Bürge und Zahler ist nicht Gegenstand des Klagebegehrens.

Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab, weil die Bezahlung der von der Beklagten geforderten Beträge mangels Genehmigung durch die Europäische Kommission rechtswidrige Beihilfen wären.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, die Frage nach dem Beginn der Frist nach Art 15 VVO (Verordnung [EG] Nr 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art 93 des EG-Vertrags) sei in höchstgerichtlicher Rechtsprechung bislang nicht beantwortet worden. Allerdings bestehe im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH (8. 12. 2011, C‑81/10 P, France Télécom SA) und die Lehre zum europäischen Beihilfenrecht (Birnstiel/Bungenberg/Heinrich, Europäisches Beihilfenrecht [2013], Art 15 VVO, Rz 553) kein vernünftiger Zweifel im Sinn „acte claire“ über die richtige Anwendung des Unionsrechts, sodass ein Vorabentscheidungersuchen nicht geboten gewesen sei (RIS‑Justiz RS0075861; RS0123074).

Rechtliche Beurteilung

Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 Satz 4 ZPO).

Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Unionsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlief (RIS‑Justiz RS0117100).

Dass – wie die Zulassungsbegründung anführt – keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Beginn der Frist nach Art 15 VVO (bzw nunmehr zur – soweit relevant – gleichlautenden Bestimmung des Art 17 der Verordnung [EU] 2015/1589 vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union; zum Inkrafttreten vgl Art 36 der Verordnung: zwanzigster Tag nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU, veröffentlicht Abl L 248 vom 24. 9. 2015, somit am 14. 10. 2015) besteht, begründet somit keine erhebliche Rechtsfrage.

Eine gravierende Fehlbeurteilung bei der Auslegung der genannten Bestimmung des Unionsrechts ist dem Berufungsgericht nicht unterlaufen; es hat aufgrund der zitierten Entscheidung und der dieser entsprechenden Kommentierung an der angegebenen Fundstelle zu Recht „acte claire“ angenommen. Danach kommt es für den Beginn der zehnjährigen Verjährungsfrist nach der angeführten Bestimmung der VVO auf den Tag an, an dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger gewährt wird. Folglich ist die tatsächliche Gewährung der Beihilfe das ausschlaggebende Kriterium für die Bestimmung der Verjährungsfrist des Art 15 (bzw Art 17 VO [EU] 2015/1589). Aus Art 15 Abs 2 der Verordnung (bzw Art 17 VO [EU] 2015/1589) folgt auch, dass diese Bestimmung für die Festlegung des Tages, an dem die Verjährungsfrist zu laufen beginnt, auf die Gewährung der Beihilfe an den Empfänger und nicht auf den Tag des Erlasses einer Beihilferegelung abstellt (EuGH 8. 12. 2011, C‑81/10 P, France Télécom SA Rz 8 ff).

Im vorliegenden Fall kommt es somit nicht auf die Vereinbarung der Beihilfe in den Jahren 2002 und 2003 an, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlich gewährten Beihilfen. Die von der Klägerin begehrten Zahlungen hätten nach den Feststellungen ab dem Jahr 2014 erfolgen sollen.

Zutreffend hat das Berufungsgericht auf die Entscheidung der Kommission vom 23. 7. 2014 – Kristall Bäder AG, SA.33045, verwiesen. In der Entscheidung „Kristall Bäder AG“ stellte die Kommission klar, dass es für die Annahme der Handelsbeeinträchtigung ausreiche, wenn der Empfänger auf wettbewerbsoffenen Märkten mit anderen Unternehmen in Konkurrenz trete, also in erster Linie der Angebotsmarkt relevant für die Frage der Handelsbeeinträchtigung sei. Bereits die Finanzierung durch die öffentliche Hand sei ein Vorteil.

Dieser Angebotsmarkt ist hier durch die von der Beklagten gewährten bzw von der Klägerin begehrten Leistungen offensichtlich insoweit betroffen, weil durch die Leistungen der Beklagten die Klägerin den Betrieben, die sich im Technologiezentrum ansiedeln, günstigere Bedingungen als in anderen Technologiezentren anbieten kann (zB die festgestellten unter dem Marktwert gewährten Mieten), was sich wiederum auf die Möglichkeit der Betriebe, günstiger anbieten zu können, auswirkt.

Weiters hat das Berufungsgericht sinngemäß darauf hingewiesen, dass, weil eine Notifizierung bei der Kommission bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz nicht erfolgte, ein Verfahren bei der EU-Kommission über die Beihilfe erst in Zukunft (nach Notifikation) eingeleitet werden kann. Diesfalls würde die Kommission ihre Entscheidung „Kristall Bäder AG“ und die zitierte Entscheidung des EuGH anwenden. Davon, dass – wie die Revisionswerberin meint – diese Entscheidungen von der Kommission nicht anzuwenden wären, weil sie erst später als die (vereinbarten) Zahlungen ergangen seien, kann daher keine Rede sein.

Auch aus den verbundenen Rechtssachen EuGH 19. 3. 2013, C‑399/10p und C‑401/10p France Télécom SA ist für die Klägerin nichts abzuleiten: Diese Entscheidungen enthalten zu Fragen der Verjährung und der 10-Jahres-Frist des Art 15 VO 659/1999 (bzw Art 17 VO [EU] 2015/1589) keine Ausführungen.

Inwiefern sich am Ergebnis etwas ändern sollte, wenn alle drei Zusagen bzw Leistungen der Beklagten (Haftung als Bürge und Zahler, Annuitäten, Refundierung aus der Kommunalsteuer) als einheitliche Maßnahme angesehen würden, ist angesichts der dargestellten Rechtslage, wonach es auf die tatsächliche Gewährung der Beihilfe ankommt, nicht nachvollziehbar. Auch daran ändert sich durch die Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen EuGH 19. 3. 2013, C‑399/10p und C‑401/10p France Télécom SA nichts, weil dort in Rz 130 nur festgehalten wird, dass „nicht von vornherein ausgeschlossen werden [kann], dass mehrere aufeinanderfolgende Maßnahmen als eine einzige Maßnahme zu betrachten sind, insbesondere wenn sie in Anbetracht ihrer zeitlichen Abfolge, ihres Zwecks und der Lage des Unternehmens derart eng miteinander verknüpft sind, dass sie sich unmöglich voneinander trennen lassen“. Im hier vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht jedenfalls vertretbar die Ansicht geäußert, die drei verschiedenen gewährten Förderungen verfolgten verschiedene Ziele, sodass nicht davon gesprochen werden kann, sie ließen sich im Sinn der genannten Entscheidung „unmöglich voneinander trennen“.

Da – wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat – die unionsrechtliche Rechtslage klar ist, war der Anregung der Revisionswerberin auf ein Vorabentscheidungsersuchen nicht näherzutreten.

Sonstige Rechtsfragen, die erheblich wären, spricht die Revision nicht an.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 40, 50 ZPO. Die beklagte Partei hat nicht auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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