OGH 7Ob148/16i

OGH7Ob148/16i30.11.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Ing. P***** V*****, 2. Bc. A***** V*****, beide SK‑*****, 3. E***** ZV II a.s., 4. E***** LV a.s., 5. V***** a.s., 6. E***** BB a.s. und 7. B***** s.r.o., dritt- bis siebtklagende Partei SK‑*****, alle vertreten durch Alix Frank Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. W***** AG, *****, 2. C***** a.s., SK‑*****, und 3. S*****, SK‑*****, wegen Feststellung, im Verfahren über den Revisionsrekurs der klagenden Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 21. Juni 2016, GZ 3 R 27/16m‑5, womit der Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 14. April 2016, GZ 3 Cg 18/16h‑2, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0070OB00148.16I.1130.000

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art 1 Abs 2 lit b der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO 2012) dahin auszulegen, dass eine auf einen deliktischen Schadenersatzanspruch gegen Mitglieder eines Gläubigerausschusses wegen ihres rechtswidrigen Abstimmungsverhaltens über einen Sanierungsplan in einem Insolvenzverfahren gestützte Klage der Inhaber von Geschäftsanteilen an der Gemeinschuldnerin – wie des Erstklägers und der Zweitklägerin – und der in Geschäftsbeziehung mit der Gemeinschuldnerin stehenden Projektgesellschaften – wie der Dritt- bis Siebtklägerinnen –im Sinn von Art 1 Abs 2 lit b EuGVVO 2012 die Insolvenz betrifft und daher vom sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossen ist?

II. Das Verfahren über den Revisionsrekurs der klagenden Parteien wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Begründung

I. Sachverhalt:

Nur die Erstbeklagte hat ihren Sitz in Österreich, alle anderen Parteien haben ihren Wohnsitz bzw Sitz in der Slowakei.

II. Anträge und Vorbringen der Parteien:

Die Kläger begehren die Feststellung der Haftung der Beklagten für die aus der rechtswidrigen Ablehnung des Sanierungsplans durch die Beklagten in ihrer Funktion als Mitglieder des Gläubigerausschusses im Sanierungsverfahren der V***** s.r.o. resultierenden Schäden. Bei der V***** s.r.o. handle es sich um eine Gesellschaft nach slowakischem Recht, über deren Vermögen in der Slowakei ein Konkursverfahren eröffnet worden sei. In dem eingeleiteten Sanierungsverfahren seien die Beklagten zu den (einzigen) Mitgliedern des Gläubigerausschusses bestellt worden. In dieser Funktion hätten sie in der Sitzung vom 11. 12. 2015 den von der Gemeinschuldnerin vorgelegten Sanierungsplan ohne nachvollziehbare Begründung abgelehnt, weshalb das Sanierungsverfahren gescheitert sei. Im daraufhin (neuerlich) eröffneten Konkursverfahren werde es zur Verwertung des Vermögens der Gemeinschuldnerin kommen. Aus diesem Grund würden der Erstkläger und die Zweitklägerin einen massiven Wertverlust der von ihnen an der Gemeinschuldnerin gehaltenen Geschäftsanteile und einen Gewinnentgang erleiden. Die Dritt- bis Siebtklägerinnen seien als Projektgesellschaften durch das wegen der Ablehnung des Sanierungsplans drohende Scheitern von Bauprojekten bzw deren Verzögerungen geschädigt. Die Beklagten hätten die allgemeine Präventionsobliegenheit nach § 415 slowakisches BGB sowie ihre Pflichten nach der slowakischen Insolvenzordnung als Mitglieder des Gläubigerausschusses verletzt, insbesondere nicht im gemeinsamen Interesse aller Gläubiger gehandelt, und seien daher nach § 420 slowakisches BGB haftpflichtig für die eingetretenen Schäden.

Zur Zuständigkeit berufen sich die Kläger auf Art 4 und 8 EuGVVO 2012. Eine vom Anwendungsbereich der EuGVVO 2012 ausgenommene Insolvenzsache im Sinn des Art 1 Abs 2 lit b liege nicht vor. Die Rechtsgrundlage des Feststellungsbegehrens liege nicht im Insolvenzrecht, sondern im allgemeinen Schadenersatzrecht. Das Verfahren habe keinen spezifisch insolvenzrechtlichen Inhalt und diene keinem spezifisch insolvenzrechtlichen Zweck.

Die Beklagten sind am Verfahren bislang nicht beteiligt.

III. Bisheriges Verfahren:

Das Erstgericht wies die Klage – vor Zustellung der Klage an die Beklagten a limine – wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück. Das Klagebegehren sei untrennbar mit der Funktion der Beklagten als Mitglieder des Gläubigerausschusses und den sich daraus ergebenden Pflichten nach der slowakischen Insolvenzordnung verbunden. Die Klage leite sich daher unmittelbar aus dem Insolvenzrecht ab und stehe damit in engem Zusammenhang. Die Klage sei somit nach Art 1 Abs 2 lit b EuGVVO 2012 von deren Anwendungsbereich ausgenommen; auf sie sei die EuInsVO anzuwenden.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Den Kernpunkt des Verfahrens stelle der Vorwurf dar, dass die Beklagten als Mitglieder des Gläubigerausschusses – und damit eines nach slowakischem Recht obligatorischen Organs im Insolvenzverfahren – gegen ihre in der slowakischen Insolvenzordnung normierten Verpflichtungen verstoßen hätten. Nicht maßgeblich sei, in welchem Gesetz die Anspruchsgrundlage geregelt sei. Die Klage diene dem Zweck des Insolvenzverfahrens, indem sie ein obligatorisches Organ anhalte, seinen Pflichten im Verfahren und zum Nutzen der Gläubigergesamtheit nachzukommen. Die Klage unterliege als Annexverfahren zum Insolvenzverfahren der Ausnahmebestimmung des Art 1 Abs 2 lit b EuGVVO 2012.

IV. Rechtsgrundlagen:

Rechtliche Beurteilung

Die für die Prüfung des anzuwendenden Rechts in Betracht kommenden Bestimmungen des Unionsrechts und des slowakischen Rechts lauten wie folgt:

1. Unionsrecht:

A. Art 1 der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO 2012) lautet auszugsweise:

„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. […]

(2) Sie ist nicht anzuwenden auf:

[…]

b) Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren,

[...]“

B. Verordnung (EG) Nr 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (Europäische Insolvenzverordnung – EuInsVO):

Art 3 Internationale Zuständigkeit:

„(1) Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.

[...]“

Erwägungsgrund 6:

„Gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte sich diese Verordnung auf Vorschriften beschränken, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen. Darüber hinaus sollte diese Verordnung Vorschriften hinsichtlich der Anerkennung solcher Entscheidungen und hinsichtlich des anwendbaren Rechts, die ebenfalls diesem Grundsatz genügen, enthalten.“

2. Slowakisches Recht:

A. Zum BGB:

§ 415 BGB lautet:

„Jeder ist verpflichtet, sich so zu verhalten, dass keine Schäden an Gesundheit, Vermögen, Natur und Umwelt entstehen.“

§ 420 Abs 1 BGB lautet:

„(1) Jeder haftet für den Schaden, den er durch Verletzung einer Rechtspflicht verursacht hat.“

B. Zum Insolvenzgesetz:

Im slowakischen Insolvenzverfahren ist zwischen dem Konkurs- und dem Sanierungsverfahren zu unterscheiden. Letzteres wird in den §§ 108–165 geregelt. Der Gläubigerausschuss – bestehend aus drei oder fünf Mitgliedern – wird nach § 127 Abs 1 von der Gläubigerversammlung bestellt. Diesem obliegt – neben der Gläubigerversammlung – gemäß § 133 Abs 1 die Genehmigung des vom Gemeinschuldner zu erstellenden Sanierungsplans. Wird der Sanierungsplan vom Gläubigerausschuss abgelehnt oder wird von diesem nicht innerhalb der Fristen des § 144 Abs 1 eine Entscheidung getroffen, hat der Insolvenzverwalter nach § 144 Abs 2 unverzüglich die Eröffnung des Konkursverfahrens zu beantragen.

Nach § 127 Abs 4 sind alle Mitglieder des Gläubigerausschusses verpflichtet, im gemeinsamen Interesse aller Gläubiger vorzugehen.

V. Begründung der Vorlagefrage:

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art 3 Abs 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass er dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für Klagen, die unmittelbar aus diesem Verfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen, auch eine internationale Zuständigkeit zuweist (EuGH 11. 6. 2015, Rs C‑649/13 [ Nortel Networks SA ua gegen Rogeau ] Rn 31; EuGH 12. 2. 2009, Rs C‑339/07 [ Seagon gegen Deko Marty ] Rn 21 ua). Der Ausschluss des Art 1 Abs 2 lit b der Verordnung (EG) Nr 44/2001 (= EuGVVO 2001) und der Anwendungsbereich der EuInsVO sind so auszulegen, dass jede Überschneidung zwischen den in diesen Texten enthaltenen Rechtsvorschriften vermieden wird. Dementsprechend fällt eine Klage, die vom Anwendungsbereich des Art 3 Abs 1 EuInsVO erfasst wird, nicht in den Anwendungsbereich der EuGVVO 2001 (EuGH 4. 12. 2014, Rs C‑295/13 [ H gegen H. K. ] Rn 31 mwN).

2. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat schon wiederholt ausgesprochen, dass der Anwendungsbereich der EuInsVO nicht weit ausgelegt werden darf (EuGH 11. 6. 2015, Rs C‑649/13 [ Nortel Networks SA ua gegen Rogeau ] Rn 27; EuGH 4. 9. 2014, RS C‑157/13 [ Nickel & Goeldner Spedition GmbH gegen „Kintra“ UAB ] Rn 22; EuGH 10. 9. 2009, Rs C‑292/08 [ German Graphics Graphische Maschinen GmbH gegen van der Schee ] Rn 25). Nur Klagen, die sich unmittelbar aus einem Insolvenzverfahren herleiten und in engem Zusammenhang damit stehen (Annexverfahren), sind vom Anwendungsbereich der EuGVVO 2001 ausgeschlossen. Demnach fallen nur diese Klagen in den Anwendungsbereich der EuInsVO (EuGH 11. 6. 2015, Rs C‑649/13 [ Nortel Networks SA ua gegen Rogeau ] Rn 27; EuGH 4. 9. 2014, Rs C‑157/13 [ Nickel & Goeldner Spedition GmbH gegen „Kintra“ UAB ] Rn 23 mwN ua). Nach neuerer Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das ausschlaggebende Kriterium zur Bestimmung des Gebiets, dem eine Klage zuzurechnen ist, nicht der prozessuale Kontext, in dem diese Klage steht, sondern deren Rechtsgrundlage. Nach diesem Ansatz ist zu prüfen, ob der zugrunde liegende Anspruch oder die zugrunde liegende Verpflichtung den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts entspricht oder aber den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren (EuGH 11. 6. 2015, Rs C‑649/13 [ Nortel Networks SA ua gegen Rogeau ] Rn 28; EuGH 4. 9. 2014, RS C‑157/13 [ Nickel & Goeldner Spedition GmbH gegen „Kintra“ UAB ] Rn 27).

3. Der Gerichtshof der Europäischen Union hatte sich bislang noch nicht mit der Haftung eines Organs des Insolvenzverfahrens oder dessen Mitglieder zu befassen. Im deutschsprachigen Schrifttum wird die Frage, ob eine Haftungsklage gegen einen Insolvenzverwalter ein Annexverfahren darstellt, kontrovers diskutiert. Die Anwendung der EuInsVO bejahende Stellungnahmen verweisen insbesondere darauf, dass die Insolvenz für die Haftungsklage kausal sei und sie in engem Zusammenhang zum Verfahren stehe ( Czernich in Czernich/Kodek/Mayr , Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht 4 , Art 1 EuGVVO Rn 51) und der Insolvenzverwalter dadurch angehalten werde, seine insolvenzspezifischen Pflichten zu erfüllen ( Mankowski in Rauscher/Staudinger , EuZPR/EuIPR [2016], Art 1 Brüssel Ia-VO Rn 74 mwN ua). Eine für die Anwendung der EuGVVO eintretende Stellungnahme hebt beispielsweise hervor, dass die Haftungsklage kein integraler Bestandteil des Insolvenzverfahrens sei ( Schack , Internationales Zivilverfahrensrecht 5 , § 24 Rn 1187).

4. Mit dem vorliegenden Ersuchen strebt der Oberste Gerichtshof zur Beurteilung der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte eine Klarstellung der Abgrenzung des Anwendungsbereichs der EuGVVO 2012 zur EuInsVO im Zusammenhang mit der vorliegenden Haftungsklage gegen Mitglieder eines Gläubigerausschusses wegen rechtswidrigen Abstimmungsverhaltens in einem Insolvenzverfahren an.

VI. Verfahrensrechtliches:

Als Gericht letzter Instanz ist der Oberste Gerichtshof gemäß Art 267 AEUV zur Vorlage verpflichtet, weil die richtige Anwendung des Unionsrechts zweifelhaft ist.

Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über das Rechtsmittel der Kläger gemäß § 90a Abs 1 GOG auszusetzen.

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