OGH 3Ob169/16y

OGH3Ob169/16y22.9.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L*****, geboren am ***** 2002, *****, über den Rekurs des Minderjährigen, vertreten durch Dr. Susanne Schwarzenbacher, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 27. Juni 2016, GZ 11 Nc 8/16k‑4, mit dem die mit Beschluss des Bezirksgerichts Klosterneuburg vom 30. März 2016, GZ 1 Ps 156/12y (nunmehr: 1 Ps 78/16h)-214, verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Fünfhaus gemäß § 111 Abs 1 JN nicht genehmigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00169.16Y.0922.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Der Minderjährige ist – nach Übertragung der ursprünglich gemeinsamen Obsorge der Eltern an den Vater allein – derzeit vorläufig in einer Wohngemeinschaft des Kinder- und Jugendhilfeträgers in Wien 14 untergebracht, weil er jeglichen Kontakt zum Vater verweigert. Mit Schriftsatz vom 17. März 2016 (ON 212a) stellte er unmittelbar nach Vollendung des 14. Lebensjahrs den Antrag, seinem Vater die Obsorge und jegliches Kontaktrecht zu entziehen, die Obsorge der Mutter zu übertragen und die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache dem Bezirksgericht Fünfhaus zu übertragen. Er habe seinen überwiegenden Aufenthalt – wenn auch zwangsweise – in Wien 14.

Mit Beschluss vom 30. März 2016 übertrug das Bezirksgericht Klosterneuburg die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Fünfhaus. Dieses lehnte die Übernahme der Pflegschaftssache mit Beschluss vom 29. April 2016 ab.

Das zur Entscheidung dieses negativen Kompetenzkonflikts berufene Oberlandesgericht Wien genehmigte die Übertragung der Zuständigkeit nicht und sprach aus, dass die Pflegschaftssache weiterhin vom Bezirksgericht Klosterneuburg zu führen sei. Der Minderjährige habe in seinem Antrag vom 17. März 2016 vorgebracht, das Leben in der Wohngemeinschaft sei nicht auszuhalten und er könne nur hoffen, dass dieser Albtraum so bald wie möglich ein Ende habe und er die Wohngemeinschaft verlassen dürfe. Die Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN setze voraus, dass dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes gefördert werde. Das sei nach der Rechtsprechung etwa dann der Fall, wenn der Mittelpunkt der Lebensführung des Pflegebefohlenen nicht nur vorübergehend in den Sprengel eines anderen Gerichts verlegt worden sei. Stehe der künftige Aufenthalt noch nicht fest, habe nach ständiger Rechtsprechung keine Zuständigkeitsverlagerung stattzufinden. Derzeit liege kein stabiler Aufenthalt des Minderjährigen im Sprengel des Bezirksgerichts Fünfhaus vor, der eine Übertragung der Zuständigkeit an dieses Gericht rechtfertigen könnte.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Minderjährigen, der nicht berechtigt ist.

1.

 Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS-Justiz

RS0046908 ua). Als Ausnahmebestimmung ist § 111 JN grundsätzlich eng auszulegen (RIS-Justiz

RS0046929 [T11, T20]). Eine Zuständigkeitsübertragung hat also nur zu erfolgen, wenn dies im Interesse des Kindes und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RIS-Justiz RS0046908, RS0046929 ua).

2. In der Regel wird es zwar den Interessen des Kindes am besten entsprechen, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes liegt (RIS-Justiz

RS0047300 ua). Die Zuständigkeitsübertragung setzt allerdings einen stabilen Aufenthalt des Pflegebefohlenen voraus. Die Übertragung wird deshalb insbesondere dann als unzweckmäßig erachtet, wenn noch nicht endgültig über die Obsorge entschieden ist, der Aufenthalt des gesetzlichen Vertreters und damit des Kindes instabil ist oder die zukünftige Lebenssituation unklar ist (6 Nc 22/15k; RIS‑Justiz RS0046908 [T12]).

3. Im vorliegenden Fall hat die Mutter zwar nach der Antragstellung des Minderjährigen alle von ihr im Pflegschaftsverfahren gestellten, noch nicht erledigten Anträge zurückgezogen; dies jedoch ausdrücklich ohne Verzicht auf den Anspruch und verbunden mit der Ankündigung, sie werde „beim zuständigen Gericht in Wien“ entsprechende Anträge stellen. Hier wird also jedenfalls erst nach der – wohl nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Kindeswohl zu treffenden – Entscheidung über den vom Minderjährigen selbst gestellten Antrag und die angekündigten neuerlichen Anträge der Mutter endgültig feststehen, wo der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Minderjährigen dauerhaft liegt. Bis dahin überwiegt der Vorteil der Verfahrensführung durch jenes Gericht, das seit Jahren mit dieser äußerst umfangreichen und komplexen Pflegschaftssache befasst ist (vgl RIS-Justiz RS0047300 [T4], RS0046908 [T5]), deutlich den vom Minderjährigen ins Treffen geführten Nachteil einer längeren Anreise zum Bezirksgericht Klosterneuburg als zum Bezirksgericht Fünfhaus.

Stichworte