European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0100OB00033.16Z.0628.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem die Entscheidung über die bisher nicht erledigten Teile der Berufung unter Abstandnahme von dem als gegeben erachteten Nichtigkeitsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Die klagende Kommanditgesellschaft begehrt von der beklagten Bau GmbH 7.500 EUR an Werklohn für Fassaden‑ und Montagearbeiten, die im April 2012 an der Baustelle G*****, durchgeführt wurden.
Die Beklagte wendete ein, die Klägerin habe als ihre Subunternehmerin im Jahr 2008 an einem Haus in B*****, eine Fassade errichtet. Nachdem die Fassade trotz Verbesserungsversuchen mangelhaft geblieben sei, sei es zu einem Gerichtsverfahren zwischen dem Bauherrn bzw dem Käufer und dem Generalunternehmer gekommen, dem sie (die Beklagte) als Nebenintervenientin auf Seiten des Generalunternehmers beigetreten sei. Dieses Verfahren habe damit geendet, dass sich die Generalunternehmerin vergleichsweise zur Zahlung von 20.000 EUR verpflichtet habe. Noch am selben Tag habe sie (die Beklagte) sich mittels Vergleich gegenüber dem Generalunternehmer zur Zahlung von 20.000 EUR verpflichtet und der Klägerin gegenüber mit Schreiben vom 17. 8. 2012 (außergerichtlich) die Aufrechnung erklärt. Im zweiten Rechtsgang brachte die beklagte Partei ergänzend vor, sie habe bereits zuvor, nämlich am 24. 5. 2012 den Vergleichsbetrag von 20.000 EUR an den Generalunternehmer
überwiesen, sodass ihre Regressforderung mit der sie gegenüber der Klägerin aufgerechnet habe, zum Aufrechnungszeitpunkt fällig gewesen sei. Zwischen ihr und der Klägerin sei außerdem eine Vereinbarung getroffen worden, nach der die Klägerin den Vergleichsbetrag von 20.000 EUR auf die Weise bezahlen sollte, dass sie im Auftrag der Beklagten (weitere) Fassadenarbeiten ausführt, die gegen diesen Betrag verrechnet würden. Zudem habe sich kürzlich herausgestellt, dass (auch) die klagsgegenständlichen Fassadenarbeiten auf der Baustelle in G***** von der Klägerin mangelhaft ausgeführt worden seien. Die Anschlüsse seien nicht ordnungsgemäß und das Gefälle an den Fensterbrettern sei zu gering ausgeführt worden. Die Klägerin werde hiemit aufgefordert, diese Mängel zu beheben. Der Klagsbetrag sei daher noch nicht fällig.
Die Klägerin replizierte, zum Zeitpunkt der Errichtung der Fassade am Haus in B***** sei sie noch nicht gegründet gewesen und sie habe keine Leistungen für die Beklagte erbracht. Eine Vereinbarung, in welcher sie sich verpflichtet hätte, der Beklagten den Vergleichsbetrag von 20.000 EUR zu ersetzen bzw diesen Betrag „abzuarbeiten“, sei nicht geschlossen worden. Die von ihr geleisteten Arbeiten seien mängelfrei. Die Fensterbretter seien nicht von ihr versetzt worden.
Das Erstgericht wies mit Urteil vom 10. 12. 2014 das Klagebegehren (auch im zweiten Rechtsgang) ab.
Es traf im Wesentlichen folgende Feststellungen:
„Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 18. 2. 2008 gegründet. Sie führte für die Beklagte diverse Fassaden‑ und Montagearbeiten durch, so auch nach dem Februar 2008 auf einer Baustelle in B*****. Nach Verkauf des zu errichtenden Objekts rügte der Käufer Mängel an der Fassade. Eine von der Klägerin vorgenommene Sanierung blieb neuerlich mangelhaft. Dem vor dem Handelsgericht Wien zu 11 Cg 6/11m zwischen dem Käufer und dem Generalunternehmer geführten Rechtsstreit trat die Beklagte als (erste) Subunternehmerin auf Seiten des Generalunternehmers als Nebenintervenientin bei. Dieses Verfahren endete nach Einholung eines Sachverständigengutachtens am 26. 4. 2012 mit einem Vergleich, in dem sich die Generalunternehmerin zur Zahlung von 20.000 EUR verpflichtete. Am Tag dieses Vergleichsabschlusses verpflichtete sich die Beklagte gegenüber der Generalunternehmerin zur Zahlung von 20.000 EUR; sie brachte diesen Betrag am 24. 5. 2012 zur Überweisung. In der Folge kamen der Geschäftsführer der Klägerin und der Geschäftsführer der Beklagten überein, dass die Klägerin die 20.000 EUR 'übernimmt', weitere Fassadenarbeiten für die Beklagte durchführt und so diesen Betrag 'abarbeitet'.
Im April 2012 führte die Klägerin im Auftrag der Beklagten am Haus in G*****, Fassadenarbeiten durch und versetzte die Fensterbänke. Am 14. 5. 2012 stellte sie der Beklagten für diese Arbeiten 7.500 EUR netto in Rechnung. Mit Schreiben vom 17. 8. 2012 erklärte die Beklagte die Aufrechnung ihrer Forderung aus dem Vergleich mit der Generalunternehmerin vom 26. 4. 2012 gegen die Forderung der Klägerin aus der Rechnung vom 14. 5. 2012 und forderte die Klägerin zur Zahlung des Differenzbetrags auf. Hiebei handelt es sich um den ersten Rechnungsbetrag, der auf den von der Klägerin zu zahlenden Betrag aufgerechnet werden sollte. Eine Zahlung wurde nicht geleistet. Die Klägerin hat (auch) diese Arbeiten mangelhaft ausgeführt; so wurden beispielsweise die Fensterbänke unter Unterschreitung des Mindestgefälles montiert.“
Rechtlich war das Erstgericht der Auffassung, der Beklagten stehe eine (Gegen‑)Forderung zu, die den eingeklagten Werklohn übersteige und mit der sie mit Schreiben vom 17. 8. 2012 die Aufrechnung erklärt habe. Die Streitteile hätten zudem vereinbart, dass die Klägerin der Beklagten den von dieser an den Generalunternehmer wegen der Mängel an der Fassade beim Objekt in B***** zu zahlenden Betrag durch Gegenverrechnung ersetzen werde. Darüber hinaus stehe der Beklagten gegenüber der Klägerin ein Regressanspruch wegen der mangelhaften Auftragserfüllung bei diesem Projekt zu. Zwischenzeitig habe sich herausgestellt, dass auch die klagsgegenständlichen Werkleistungen mangelhaft erbracht worden seien, sodass der Werklohn nicht fällig sei.
Das Berufungsgericht gab der gegen diese Entscheidung von der Beklagten erhobenen Berufung Folge, hob das Ersturteil als nichtig auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung auf.
Rechtlich ging das Berufungsgericht davon aus, dass – wie in der Berufung vorgebracht – die (hier) Beklagte mittlerweile vor dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien zu AZ 7 C 685/13f den Restbetrag auf die 20.000 EUR, nämlich 12.500 EUR, klageweise gegen die (hier) Klägerin und deren Komplementär geltend gemacht habe. Das (klagsabweisende) Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien datiere vom 10. 11. 2014, sei den Parteienvertretern am 11. 11. 2014 bzw 12. 11. 2014 zugestellt worden und sei mit Ablauf des 11. 12. 2014 – somit nach Schluss der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren – in Rechtskraft erwachsen. In seinem Urteil habe das Bezirksgericht für Handelssachen Wien festgestellt, das die (hier) Klägerin erst am 19. 3. 2008 ins Firmenbuch eingetragen worden sei, die Arbeiten an der Fassade am Objekt in B***** von vier – namentlich genannten – Personen für die (hier) Beklagte „privat“ über Vermittlung des Geschäftsführers der (hier) Klägerin durchgeführt worden seien, diese Personen aber nicht bei der (hier) Klägerin beschäftigt gewesen seien. Die Fassadenarbeiten seien mangelhaft ausgeführt worden, deretwegen sich die (hier) Beklagte gegenüber der Generalunternehmerin zur Zahlung von 20.000 EUR verpflichtet habe. Dass die (hier) Klägerin zugestimmt habe, diesen Betrag zu „übernehmen“ habe nicht festgestellt werden können. Das Urteil des Bezirksgericht für Handelssachen Wien entfalte Bindungswirkung, auch wenn es erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz in Rechtskraft erwachsen sei. Der vor dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien geltend gemachte Anspruch unterscheide sich von dem im vorliegenden Verfahren aufrechnungsweise geltend gemachten Anspruch nur quantitativ und nicht qualitativ. Sowohl im Verfahren vor dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien als auch im gegenständlichen Verfahren sei die Frage zu klären gewesen, ob die (hier) Klägerin die Fassadenarbeiten am Objekt in B***** durchgeführt und ob der (hier) Beklagten wegen Mängeln aus einem von ihr mit dem Generalunternehmer abgeschlossenen Vergleich ein Anspruch gegen die (hier) Klägerin zukomme. Sowohl der anspruchsbegründende Sachverhalt als auch die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen seien ident. Infolge der zwischen beiden Verfahren bestehenden Bindungswirkung werde das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren zwar noch über das Klagebegehren abzusprechen, dabei aber die rechtskräftige Entscheidung des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien zugrunde zu legen haben. Eine Klageabweisung mit der Begründung, die Klageforderung wäre infolge Aufrechnung bereits getilgt, komme nicht mehr in Frage.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil die Rechtsprechung zur Frage der Bindungswirkung eines erst nach Schluss der Verhandlung ergangenen Urteils uneinheitlich sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, den Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen.
Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, den Rekurs zurückzuweisen; in eventu in der Sache selbst zu entscheiden und der Klage stattzugeben; in eventu dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist zulässig, weil die Annahme der Bindungswirkung durch das Berufungsgericht einer Korrektur bedarf; der Rekurs ist im Sinn einer Aufhebung des Berufungsurteils auch berechtigt.
Die Rekurswerberin macht im Wesentlichen geltend, eine Bindungswirkung sei zu verneinen. Die Ansprüche beruhten auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, weil im vorliegenden Verfahren Werklohn geltend gemacht werde und im Verfahren vor dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien ein Teil der nicht aufgerechneten Regressforderung. Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien habe auch keinesfalls abschließend über den hier geltend gemachten Anspruch entschieden. Für die Entfaltung der Bindungswirkung sei allein der Zeitpunkt der Urteilsfällung maßgeblich, zu welchem Zeitpunkt das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien noch nicht in Rechtskraft erwachsen gewesen sei.
Dazu ist Folgendes auszuführen:
1. Auch bei Beschlüssen des Berufungsgerichts auf Nichtigerklärung ohne Zurückweisung der Klage, die nach § 519 Z 2 ZPO an sich nicht anfechtbar wären, kann ein Rechtskraftvorbehalt angebracht werden, der die Anfechtung dieses Beschlusses beim Obersten Gerichtshof ermöglicht (RIS‑Justiz RS0041947; Zechner in Fasching/Konecny² § 519 ZPO Rz 46 mwN).
2. Die Frage, ob auch eine erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz in Rechtskraft erwachsene, für die Rechtsmittelentscheidung präjudizielle zivilgerichtliche Entscheidung als bindend zu berücksichtigen ist, stellt sich nicht, weil – wie die Rekurswerberin aufzeigt – keine Bindungswirkung anzunehmen ist.
3.1 Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, handelt es sich bei der Bindungswirkung ebenso wie bei der Einmaligkeitswirkung um einen Aspekt der materiellen Rechtskraft (RIS‑Justiz RS0102102). Die Bindungswirkung einer Entscheidung äußert sich dahin, dass das Gericht zwar über das zweite Begehren mit Sachentscheidung abzusprechen hat, dabei aber die rechtskräftige Entscheidung zu Grunde zu legen hat (RIS‑Justiz RS0041205). Sie ist von Amts wegen wahrzunehmen. Ein Verstoß gegen die Bindungswirkung einer Vorentscheidung stellt einen Nichtigkeitsgrund dar (RIS‑Justiz RS0074226 [T1, T5]). Die Vertauschung der Parteirollen ist für den Umfang der Rechtskraftwirkung und Bindungswirkung für das Folgeverfahren ohne Bedeutung (RIS‑Justiz RS0120854).
3.2 Das Ausmaß der
Bindungswirkung wird grundsätzlich nur durch den Urteilsspruch bestimmt (RIS‑Justiz RS0041331, RS0041357); für dessen Auslegung sind erforderlichenfalls die Entscheidungsgründe heranzuziehen, was insbesondere gilt, wenn der Umfang der Rechtskraftwirkung eines abweisenden Urteils festgestellt werden soll (RIS‑Justiz RS0043259, RS0041357 [T9]). Die rechtskräftige Verneinung eines Anspruchs ist auf den vom Gericht zur Abweisung herangezogenen Sachverhalt – den „maßgeblichen Sachverhalt“ beschränkt (5 Ob 502/96 mwN). Darum beschränkt sich die rechtskräftige Verneinung des Anspruchs grundsätzlich nur auf den vom Gericht zur Abweisung herangezogenen Grund, hindert aber die Geltendmachung desselben Begehrens aus anderen rechtserzeugenden Tatsachen nicht.
3.3 Gegenstand des Verfahrens vor dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien war eine auf eine Vereinbarung (ein Anerkenntnis) über 20.000 EUR gestützte Teilforderung von 12.500 EUR. Im vorliegenden Verfahren ist – mit vertauschten Parteienrollen – eine Werklohnforderung von 7.500 EUR eingeklagt. Wie das vor dem Bezirksgericht für Handelssachen abgeführte Beweisverfahren erbrachte, ist dort der Beweis des Bestehens der behaupteten Vereinbarung, nicht gelungen, sodass eine klagsabweisende Entscheidung erging. Grundsätzlich erstreckt sich die Rechtskraftwirkung dieses Urteils nur auf den (klagsabweislichen) Spruch über die Teilforderung von 12.500 EUR. Eine Bindung an die im Verfahren vor dem Bezirksgericht für Handelssachen bezüglich des Bestehens der behaupteten Vereinbarung getroffene (negative) Feststellung für das vorliegende Verfahren ist zu verneinen, weil nach ständiger Rechtsprechung Sachverhaltsfeststellungen früherer Entscheidungen aus anderen Verfahren grundsätzlich keine Bindungswirkung auf spätere Verfahren haben. Die Feststellung von Tatsachen hat grundsätzlich in jedem Rechtsstreit ohne Bindung an die Beurteilung im Vorprozess zu erfolgen (RIS‑Justiz RS0036826). Demnach ist die neuerliche Beurteilung der Frage, ob zwischen den Parteien eine Vereinbarung besteht, wonach die (hier) Klägerin eine Verbindlichkeit der (hier) Beklagten übernehme, im vorliegenden Prozess mangels Bindungswirkung nicht ausgeschlossen. Diese Vereinbarung stellt aber nur einen der mehreren Rechtsgründe dar, auf die die hier Beklagte ihren Einwand stützt, die Klagsforderung bestehe nicht zu Recht (weiters wurde Schuldtilgung infolge außergerichtlicher Aufrechnung im Hinblick auf das Bestehen einer Regressforderung gemäß § 1313 Satz 2 ABGB, zuletzt aber auch mangelnde Fälligkeit der Hauptforderung wegen Mangelhaftigkeit der Werkleistung und der Erhebung eines Verbesserungsbegehrens eingewendet).
4. Ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsmeinung des Vorliegens einer Bindungswirkung und der Nichtigkeit der erstgerichtlichen Entscheidung hat das Berufungsgericht die weiters geltend gemachten Berufungsgründe bisher unerledigt gelassen. Im Hinblick darauf, dass keine Bindungswirkung gegeben ist, wird sich das Berufungsgericht mit diesen Berufungsausführungen inhaltlich auseinanderzusetzen haben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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