European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0070OB00037.16S.0525.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.281,86 EUR (darin enthalten 380,31 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger lenkte ein Fahrzeug seines Dienstgebers, das beim beklagten Versicherer haftpflichtversichert war. Der Versicherungsvertrag umfasste auch eine Lenkerschutzversicherung. Die Klausel „U12 Lenkerschutzversicherung“ (in der Folge kurz: LSV) lautet auszugsweise:
„Versicherungsumfang
1. Versichert sind Personenschäden des berechtigten Lenkers, die durch einen Unfall beim Lenken des versicherten Fahrzeuges [...] entstanden sind.
Ein Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.
[…]
4. Die Ausübung der Rechte aus der Lenkerschutzversicherung steht ausschließlich dem berechtigten Lenker des versicherten Fahrzeuges zu.
[...]“
Der Kläger rutschte mit dem Fahrzeug nach einer Kollision mit einem abgestellten Pkw in eine rechts außerhalb der Fahrbahn befindliche Brunnenanlage und blieb mit der Bodengruppe auf dem äußerst unebenen, den Brunnen begrenzenden Naturstein hängen. Als das Fahrzeug zum Stillstand kam, war der Kläger weder verletzt noch bewusstlos. Er öffnete den Sicherheitsgurt und wollte bei der Fahrertür aussteigen. Da das Bodenniveau außerhalb des Fahrzeugs tiefer als erwartet war, stolperte er und stürzte in den Brunnen. Dabei schlug er mit dem Kopf frontal und ungebremst auf einem Stein auf, wodurch er eine schwere Schädelverletzung erlitt.
Der Kläger begehrte von der Beklagten aus der Lenkerschutzversicherung unter anderem 77.250 EUR sA an Schmerzengeld und stellte ein Feststellungsbegehren.
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Versicherungsschutz bestehe nur beim Lenken des versicherten Fahrzeugs. Hier sei der Personenschaden aber erst danach während des Aussteigevorgangs eingetreten.
Das Erstgericht sprach dem Kläger 57.500 EUR sA an Schmerzengeld zu und gab dem Feststellungsbegehren statt. Zur im Revisionsverfahren allein relevanten Frage des Vorliegens eines deckungspflichtigen Versicherungsfalls führte es aus, dass der Terminus „beim Lenken des versicherten Fahrzeuges“ das gesamte Unfallgeschehen im Zusammenhang mit dem Lenken des Fahrzeugs einschließe; davon sei auch das Aussteigen aus einem kollisionsbedingt zum Stillstand gekommenen Fahrzeug umfasst.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und sprach 47.500 EUR sA zu; die Stattgebung des Feststellungsbegehrens bestätigte es. Es teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichts und führte ergänzend aus, dass der Ursachenzusammenhang auch noch für Verletzungen zu bejahen sei, die sich der versicherte Lenker erst nachfolgend beim - in der Regel unter Schockeinfluss stattfindenden - Verlassen des Fahrzeugs zuziehe, das aufgrund eines Kollisionsgeschehens in einer abnormen, nicht willentlich herbeigeführten Position beschädigt zum Stillstand gekommen sei. Der Passus „beim Lenken des versicherten Fahrzeuges“ bedeute nur, dass sich der Verkehrsunfall, dessen Verletzungsfolgen Versicherungsschutz genießen, aus einer Lenkertätigkeit des Verletzten ergeben müsse, nicht jedoch, dass auch der Personenschaden noch während der Ausübung dieser Tätigkeit eingetreten sein müsse.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur maßgeblichen Bedingungslage fehle.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
1. Die Aktivlegitimation des Klägers ist unstrittig (vgl Art 4 LSV).
2. Nach Art 1 LSV sind Personenschäden des berechtigten Lenkers versichert, die durch einen Unfall „beim Lenken des versicherten Fahrzeuges“ entstanden sind. Ein Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung oder den Tod nach sich zieht.
Beim Sturz des Klägers und den damit einhergehenden Verletzungen handelt es sich unstrittig um einen Unfall im Sinn des Art 1 Satz 2 LSV. Im Revisionsverfahren ist allein die Frage zu klären, ob auch Verletzungen im Zuge des Aussteigevorgangs aus einem kollisionsbedingt in einer exponierten Lage zum Stillstand gekommenen Kraftfahrzeug vom Versicherungsschutz umfasst sind.
3. Nach ständiger Rechtsprechung sind Allgemeine Versicherungsbedingungen entsprechend den Grundsätzen der Vertragsauslegung nach den §§ 914, 915 ABGB auszulegen. Die Auslegung hat sich am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (RIS-Justiz RS0050063, RS0112256). Die Klauseln sind, wenn sie - wie hier - nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen (RIS-Justiz RS0008901). Zu berücksichtigen ist in allen Fällen der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Versicherungsbedingung (RIS-Justiz RS0008901 [T5, T7, T87], RS0050063 [T1, T6]). Bei Unklarheiten findet § 915 ABGB Anwendung. Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RIS-Justiz RS0050063 [T3]).
4.1. Bei der Lenkerschutzversicherung handelt es sich um eine relativ junge Versicherungsform, die - wie auch hier - zur Kfz-Haftpflichtversicherung als Zusatzversicherung angeboten wird. Sie soll die Deckungslücke schließen, die für den Fahrer eines Kraftfahrzeugs für seine unfallbedingten Verletzungen entsteht, wenn er selbst an der Verursachung des Unfalls schuldhaft mitgewirkt hat oder vom Unfallgegner - aus welchem Grund auch immer - sonst kein (vollständiger) Ersatz erlangt werden kann ( Heß/Höke in Beckmann/ Matusche-Beckmann , Versicherungsrechts-Handbuch³ § 30 Rn 371; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker , Straßenverkehrsrecht 24 vor § 249 BGB Rn 184; van Bühren , Die Fahrerschutzversicherung, VersR 2015, 685; Maier , Die Fahrerschutzversicherung ‑ Neue Wege beim Versicherungsschutz für den Fahrer, r + s 2014, 219). Im Kern geht es also darum, den infolge eines Unfalls verletzten Fahrer so zu stellen, als habe ihn ein Dritter geschädigt. Der Versicherer leistet für den unfallbedingten Personenschaden des Fahrers so, als ob er als Kfz-Haftpflichtversicherer für diesen Schaden eintrittspflichtig wäre ( Maier aaO).
Versichert sind typischerweise Personenschäden des Fahrers, die infolge eines Unfalls beim Lenken des versicherten Fahrzeugs auftreten. Anders als nach der Haftpflichtversicherung kommt es weder auf die Verwendung noch auf den Betrieb des Kraftfahrzeugs an. Es sind nur solche Gefahren abgesichert, die unmittelbar durch das Lenken des Kraftfahrzeugs entstehen. Demnach sind beispielsweise Schäden, die beim Ein‑ oder Aussteigen auftreten, per se nicht vom Versicherungsschutz umfasst ( Heß/Höke aaO § 30 Rn 376 und Rn 386; van Bühren aaO 686). Nur für den Fall, dass Unfälle auch dann versichert sind, wenn sie „beim Gebrauch“ des Kraftfahrzeugs entstanden sind, wären auch Unfälle im Rahmen typischer Fahrerhandlungen (Reifenwechsel, Reparaturen) gedeckt ( Maier aaO 220).
Der Unfallbegriff entspricht dem herkömmlichen Unfallbegriff in der Unfallversicherung ( Heß/Höke aaO § 30 Rn 386).
4.2.1. Nach der zu beurteilenden Bedingungslage besteht Versicherungsschutz nur für Personenschäden des Lenkers, die durch einen Unfall „beim Lenken des versicherten Fahrzeuges“ entstanden sind. Ein durchschnittlich verständiger Versicherungsnehmer geht davon aus, dass der Lenkvorgang mit dem nur auf dem freien Willen des Lenkers beruhenden Abstellen des Fahrzeugs abgeschlossen ist, weil dann die unmittelbar mit dem Lenken des Fahrzeugs verbundene besondere Gefahrenlage nicht mehr besteht.
4.2.2. Zu prüfen ist im vorliegenden Fall aber kein in diesem Sinn üblicher Aussteigevorgang, sondern ein Aussteigen aus einem Fahrzeug nach einer durch das Lenken verursachten Kollision in einer unfallbedingten Endlage an exponierter Stelle, die nicht zum Abstellen eines Fahrzeugs geeignet ist. Das Aussteigen war dadurch mit besonderen Gefahren verbunden. Gerade dieses erhöhte Gefahrenmoment hat zum Sturz des Klägers und seinen Verletzungen geführt.
Damit besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dem Lenken eines Fahrzeugs und dem Unfall. Die mit dem Lenken verbundene erhöhte Gefahrenlage ist in diesem Fall nach dem Versicherungszweck erst nach dem Verlassen des Kraftfahrzeugs beendet. Ein Unfall beim Aussteigen unter diesen Umständen genießt Versicherungsschutz.
4.2.3. Zusammenfassend ist daher festzuhalten:
Kommt ein versichertes Fahrzeug unfallbedingt zum Stillstand und verletzt sich dessen Lenker beim Aussteigen aufgrund der mit der Endlage verbundenen besonderen Gefahrensituation, ist der Unfall „beim Lenken des versicherten Fahrzeuges“ erfolgt und von der Lenkerschutzversicherung gedeckt.
Damit besteht für den Unfall des Klägers Versicherungsschutz nach Art 1 LSV. Die Beklagte ist leistungspflichtig.
5. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.
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