OGH 10Ob24/16a

OGH10Ob24/16a10.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen L*, geboren am * 1999, wohnhaft bei der Mutter P*, Deutschland, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters Dipl.‑Ing. D*, und der väterlichen Großeltern H* und U*, beide *, Deutschland, alle vertreten durch Dr. Michael Hasenöhrl, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 16. Februar 2016, GZ 44 R 409/15w‑160, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E114741

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die am * 1999 geborene L*, eine deutsche Staatsangehörige, ist die Tochter von Dipl.‑Ing. D* und P*. Die Ehe der Eltern wurde mit Urteil des Amtsgerichts Mettmann vom 11. Dezember 2003 rechtskräftig geschieden. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge in Bezug auf die Tochter wurden mit Beschluss des Amtsgerichts Mettmann vom 8. Jänner 2004 auf den Vater allein übertragen; im Übrigen blieb es beim gemeinsamen Sorgerecht der Eltern.

Im Laufe des Jahres 2004 kam es zum Abbruch des Kontakts zwischen Mutter und Tochter. Im Sommer 2012 übersiedelte die Tochter mit ihrem Vater nach Wien. Die Mutter nahm ab 2013 über Facebook wiederum Kontakt zu ihrer Tochter auf; davon erfuhr der von seiner Tochter als bestimmend, reglementierend, leistungsorientiert und einengend erlebte Vater vorerst nicht. Im Februar 2015 reiste L*, ohne ihrem Vater etwas zu sagen, zu ihrer Mutter nach Deutschland und lebt seither dort.

Das Erstgericht wies sowohl den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Übertragung der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung an ihn als auch den Antrag des Vaters, der Mutter die Obsorge zu entziehen, ab; es entzog dem Vater die Obsorge in den Bereichen Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge und übertrug die Obsorge in diesen Bereichen der Mutter.

Inhaltlich bestätigte das (vom Vater und von den väterlichen Großeltern angerufene) Rekursgericht diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass die Obsorge bis auf die Bereiche der Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes und der Gesundheitsfürsorge, in denen sie der Mutter allein zusteht, weiterhin beiden Eltern gemeinsam zusteht. Im Vordergrund der Begründung der ‑ auf der Grundlage österreichischen Sachrechts (Art 15 ff KSÜ) ergangenen ‑ Rekursentscheidung steht, dass die 16jährige L* bei ihrer Mutter in Deutschland bleiben will und dass es keinen aktuellen Grund gibt, der Mutter die Obsorge zu entziehen. Eine Obsorgeübertragung an die väterlichen Großeltern erachtete das Rekursgericht schon aufgrund ihrer (im Verhältnis zu den Eltern) nachrangigen Rechtsstellung als ausgeschlossen.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters und der väterlichen Großeltern zeigt keine erhebliche Rechtsfrage (§ 62 Abs 1 AußStrG) auf.

1. Bereits vom Rekursgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz bilden grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund (RIS-Justiz RS0050037, RS0030748), sofern nicht eine Durchbrechung dieses Grundsatzes aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist (RIS‑Justiz RS0050037 [T4]). Dies ist hier nicht der Fall. Es begründet auch keinen (vom Obersten Gerichtshof aufzugreifenden) Verfahrensfehler des Rekursgerichts, dass es die abgelehnten Beweisaufnahmen nicht nachgeholt hat (vgl RIS‑Justiz RS0042963 [T58]).

2. Der Oberste Gerichtshof ist auch in Außerstreitsachen nicht Tatsacheninstanz (RIS‑Justiz RS0108449 [T2]). Die Frage, auf welcher Beweisgrundlage Feststellungen getroffen wurden, betrifft den vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbaren Tatsachenbereich.

3. Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt, die einzelfallbezogen (RIS-Justiz RS0007101) auf der Grundlage des Kindeswohls zu treffen sind. Der Oberste Gerichtshof geht regelmäßig davon aus, dass eine Obsorgeentscheidung nur dann eine erhebliche Rechtsfrage aufwirft, wenn auf das im Vordergrund stehende Kindeswohl nicht ausreichend Bedacht genommen wurde (3 Ob 110/15w, iFamZ 2015/171, 204 [Thoma‑Twaroch]; RIS-Justiz RS0007101 [T1, T2, T3 und T8]).

§ 138 ABGB zählt als wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls auf:

1. eine angemessene Versorgung, insbesondere mit Nahrung, medizinischer und sanitärer Betreuung und Wohnraum, sowie eine sorgfältige Erziehung des Kindes;

2. die Fürsorge, Geborgenheit und der Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes;

3. die Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes durch die Eltern;

4. die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes;

5. die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung;

6. die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte;

7. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, Übergriffe oder Gewalt selbst zu erleiden oder an wichtigen Bezugspersonen mitzuerleben;

8. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, rechtswidrig verbracht oder zurückgehalten zu werden oder sonst zu Schaden zu kommen;

9. verlässliche Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen sowie sichere Bindungen des Kindes zu diesen Personen;

10. die Vermeidung von Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen des Kindes;

11. die Wahrung der Rechte, Ansprüche und Interessen des Kindes sowie

12. die Lebensverhältnisse des Kindes, seiner Eltern und seiner sonstigen Umgebung.

Nun sprechen zweifellos auch einige dieser Kriterien für eine stärkere Rolle des Vaters. Auch wenn der Wunsch des Kindes nicht allein den Ausschlag geben kann, zeigen doch die Punkte 5. und 6. (bestätigt durch § 160 Abs 3 ABGB), dass einem 16jährigen Kind nach Möglichkeit nicht gegen seinen Willen die „Erziehung“ durch einen bestimmten Elternteil aufgezwungen werden soll. In Bezug auf das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, soll demgemäß nur dann gegen den Willen des Kindes entschieden werden, wenn dies für das Kindeswohl aus gravierenden Gründen unbedingt erforderlich ist (RIS-Justiz RS0048818 [T3]).

Trotz nicht zu leugnender Entwicklungsschwierigkeiten sind die Vorinstanzen bei der gegebenen Situation durchaus vertretbar davon ausgegangen, dass es dem Wohl von L* entspricht, die Obsorge beider Eltern aufrecht zu erhalten und das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, der Mutter zu übertragen.

Mangels erheblicher Rechtsfrage ist der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.

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