OGH 10Nc5/16s

OGH10Nc5/16s14.3.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder ***** (F*****, geboren am *****, M*****, geboren am *****, V*****, geboren am *****, und L*****, geboren am *****), wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 Abs 2 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0100NC00005.16S.0314.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Imst vom 13. Jänner 2016, AZ 1 Pu 36/15h‑91, verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Leopoldstadt wird genehmigt.

Begründung

Die vier in den Jahren 2008, 2009, 2010 und 2012 geborenen Minderjährigen sind die Kinder von I***** und S*****. Die Kinder waren ab 6. September 2012 in Wien 19 wohnhaft (ON 3). Der Vater war am 18. Juli 2012 in Haft genommen worden (ON 3) und wurde schließlich zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt (ON 58), aus der er im Februar 2016 entlassen wurde (ON 93). Im Jänner 2013 übersiedelte die Mutter mit den Kindern nach Wörgl (ON 21 ‑ 22, ON 33). Die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Döbling vom 21. Mai 2013 an das Bezirksgericht Kufstein übertragen (ON 28 ‑ 31), das die Zuständigkeit übernahm (ON 36 ‑ 39).

Ab 25. Februar 2014 hielten sich die vier Kinder im Rahmen der vollen Erziehung ständig im SOS‑Kinderdorf Imst auf (ON 40), weshalb die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Imst übertragen wurde (ON 42, 51). Das Land Tirol als Kinder- und Jugendhilfeträger stellte am 4. Mai 2015 den Antrag, die Mutter ab 25. Februar 2014 zu einem monatlichen Ersatz der Kosten der vollen Erziehung in Höhe von monatlich 80 EUR je Kind zu verpflichten.

Mit Beschluss vom 7. Juli 2015 hat das Bezirksgericht Imst die Obsorge den in Wien 20 wohnhaften Großeltern väterlicherseits, F***** und L***** übertragen (ON 66). Die Kinder wohnen nunmehr dauerhaft bei den obsorgeberechtigten Großeltern; gemeldet sind sie bei ihnen seit 14. Juli 2015 (ON 93). Die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache ‑ Teilakt Obsorge ‑ wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Imst vom 14. Oktober 2015 dem Bezirksgericht Leopoldstadt übertragen (ON 78), das die Zuständigkeit übernommen hat (ON 83).

Nach Vorliegen der (die erstinstanzliche Entscheidung im noch nicht rechtskräftigen Umfang aufhebenden) Rekursentscheidung über die Verpflichtung der Mutter zum Ersatz der Kosten der vollen Erziehung übertrug das Bezirksgericht die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache ‑ Teilakt Unterhalt ‑ dem Bezirksgericht Leopoldstadt: Da sich die Kinder ständig in Wien 20 aufhalten, sei es zweckmäßiger, wenn das Bezirksgericht Leopoldstadt die Pflegschaftssache führt (ON 91).

Dieser Beschluss wurde den Eltern, den väterlichen Großeltern, dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger sowie dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck (Referat Unterhaltsvorschüsse) zugestellt und blieb unangefochten (ON 91).

Das Bezirksgericht Leopoldstadt verweigerte die Übernahme des Unterhaltsakts. Nach eingehender Darstellung der bisher getroffenen (von einer Ausnahme abgesehen rechtskräftigen) Entscheidungen des Bezirksgerichts Imst begründete es die Weigerung wie folgt:

„Aufgrund des sehr umfangreichen Aktes, der bisherigen Tätigkeiten und Verfahrenshandlungen des Bezirksgerichtes Imst sieht das Bezirksgericht Leopoldstadt eine wesentliche Verfahrensverzögerung bei der weiteren Bearbeitung der teilweise noch offenen Anträge bzw Verfahrensergänzungen.

Im vorliegenden Fall stellt nach Meinung des Bezirksgerichts Leopoldstadt selbst der hauptsächliche Aufenthalt keinen Grund zur Übertragung dar, da die minderjährigen Kinder durch den Kinder- und Jugendhilfeträger vertreten sind und dieser mit den vorzunehmenden Verfahrenshandlungen im Gerichtsverfahren bestens vertraut ist, und daher die Interessen der minderjährigen Kinder optimal vertreten sind, auch wenn die noch offenen Verfahren beim Bezirksgericht Imst erledigt werden.

Der Wohnsitz der Mutter im Bundesland Tirol (Kufstein) ist ebenfalls ein Grund dafür, dass der Akt bis zur Beendigung aller offenen Anträge vom Bezirksgericht Imst geführt werden sollte, da auch die Einkommensfeststellung der Mutter weniger Schwierigkeiten darstellt, da das dortige Gericht mit der Aufgaben‑ und Zuständigkeitsverteilung der verschiedenen im Bundesland Tirol tätigen Ämtern (zB Krankenkasse, AMS etc) vertraut ist.

Die mögliche Anspannung der Mutter auf ein fiktives Einkommen wird wohl ein weiterer Grund für die dortige Verfahrensbeendigung sein, da das Bezirksgericht Imst mit den in Tirol ansässigen berufskundlichen Sachverständigen ebenfalls besser vertraut ist und auch eine Ladung der Mutter zum SV in der Regel erfolgen wird und daher auch ihr Wohnsitz in Tirol für eine dortige Verfahrensbeendigung spricht.

Nach dem bisherigen Aktenverlauf ist das Bezirksgericht Leopoldstadt der Meinung, dass die Zuständigkeitsübertragung keine Vorteile mit sich bringt, im Gegenteil eher eine Verfahrensverzögerung und auch Schwierigkeiten bei der Einkommensfeststellung der Mutter aufgrund deren Aufenthalts.“

Das Bezirksgericht Imst legte den Teilakt Unterhalt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.

Rechtliche Beurteilung

Da die rekurslegitimierten Personen gegen den Übertragungsbeschluss kein Rechtsmittel erhoben haben, liegen die Voraussetzungen für eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nach § 111 JN vor.

Die Übertragung der Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Leopoldstadt ist gerechtfertigt.

Gemäß § 111 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint. Dies ist in der Regel der Fall, wenn die Pflegschaftssache an jenes Gericht übertragen wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes liegt. Auch offene Anträge bilden nach ständiger Rechtsprechung kein grundsätzliches Übertragungshindernis (RIS‑Justiz RS0047027 [T8]). Entscheidend ist immer das Wohl des Pflegebefohlenen, das nach den im Einzelfall gegebenen Umständen zu beurteilen ist (10 Nc 16/10z ua; P. Mayr in Rechberger, ZPO4 § 111 JN Rz 1 f mwN).

Die vom Bezirksgericht Leopoldstadt für die Weigerung gegebene Begründung ist letztlich nicht stichhaltig und lässt den von der Rechtsprechung in erster Linie verfolgten Grundsatz, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht (das die Führung des PS‑Teilakts bereits übernommen hat) und den Kindern in aller Regel zweckmäßig ist, außer Betracht. Nicht das Interesse des übernehmenden Gerichts, möglichst keine Zuständigkeit zur Führung einer Pflegschaftssache übertragen zu bekommen, sondern das Interesse der Kinder ist allein maßgeblich für die Beurteilung, ob eine Übertragung nach § 111 Abs 2 JN genehmigt wird.

Der einzige offene Antrag ist (nach der aufhebenden Rekursentscheidung) derjenige auf Verpflichtung der Mutter zum Ersatz der Kosten der vollen Erziehung. Dieser ist kein Hindernis für die Übertragung der Pflegschaftssache; er kann ohne Bedenken vom Bezirksgericht Leopoldstadt erledigt werden, dessen Weigerung ungerechtfertigt ist.

Die Übertragung ist daher zu genehmigen.

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