OGH Ds1/16

OGHDs1/1623.2.2016

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Richterinnen und Richter hat am 23. Februar 2016 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll und Prof. Dr. Danek über eine „Disziplinaranzeige“ des Norbert N***** gegen die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichts Wien Dr. S*****, die Richterin des Oberlandesgerichts Wien Mag. M***** und den Richter des Oberlandesgerichts Wien Mag. W***** nach Anhörung des Generalprokurators in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die „Disziplinaranzeige“ wird nicht weiter behandelt.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

In seiner als „Disziplinaranzeige“ gegen die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichts Wien Dr. S*****, die Richterin des Oberlandesgerichts Wien Mag. M***** und den Richter des Oberlandesgerichts Wien Mag. W***** bezeichneten, „direkt“ an den Obersten Gerichtshof gerichteten, mit 27. Jänner 2016 datierten und am 29. Jänner 2016 eingelangten Eingabe behauptet Norbert N***** Dienstpflichtverletzungen dieser Richterinnen und Richter im Zuge eines gegen ihn geführten Strafverfahrens.

Beschwerden von Beteiligten wegen Verweigerung oder Verzögerung der Rechtspflege sind bei den im § 78 GOG bezeichneten Stellen einzubringen, welchen die Wahrnehmung der dienstlichen Interessen zukommt. Eine Gerichtsentscheidung darüber sieht das Gesetz nicht vor. Das RStDG knüpft in seinem 2. Teil beim Pflichtenbereich von Justizverwaltung und Aufsicht an (§§ 73 ff GOG, § 3 Abs 1 OGHG), deren Tätigkeit in ein Disziplinarverfahren münden kann (§ 78 Abs 1 letzter Satz GOG). Wahrnehmung dienstlicher Interessen durch Private scheidet aus (vgl demgegenüber §§ 65 ff, 195, § 282 Abs 2 StPO). Von Privaten erstattete „Disziplinaranzeigen“ bilden daher keinen Prozessgegenstand für das Disziplinargericht.

Prozessgegenstand des Disziplinarverfahrens (Disziplinarsache [vgl §§ 116 f RStDG]; vgl auch § 123 Abs 3, § 130 Abs 2 RStDG [Sache] und § 137 Abs 1 RStDG [zur Last gelegte Pflichtverletzung]) ist der ohne Formzwang zum Ausdruck gebrachte, aber unmissverständliche Wille des Dienstgebers, eine Entscheidung des Disziplinargerichts herbeizuführen.

Der Disziplinaranwalt „vertritt“ „die dienstlichen Interessen“ im Disziplinarverfahren („in der Rechtspflege“; vgl § 1 erster Satz StAG; § 118 RStDG). Er hat daher den tatsächlichen (historischen) Bezugspunkt der rechtlichen Beurteilung für die nach §§ 123, 130 RStDG zu treffenden Entscheidungen des Disziplinargerichts (vgl OGH 8. 5. 2014, Ds 31/13, EvBl‑LS 2014/131) exakt zu benennen, sodass Einleitungs- und Verweisungsbeschluss (§ 123 Abs 2 bis 4, § 130 Abs 2 und 3 RStDG) als Entscheidung über Anträge des Dienstgebervertreters zur Entscheidung über vorgeworfene Taten ergehen (den Prozessgegenstand, mit anderen Worten die Tat im prozessualen Sinn; vgl §§ 262, 267 StPO; vgl auch § 91 StPO idF vor StPRefG [BGBl I 2004/19]; die bei Fellner/Nogratnig RStDG/GOG4 § 123 RStDG Anm 9 wiedergegebenen Rechtssätze stehen dem ‑ ungeachtet missverständlicher Einordnung von Gerichtsbeschlüssen als „funktioneller Anklageersatz“ ‑ nicht entgegen).

Unter dem Aspekt grundrechtlich garantierter Verfahrensfairness ist abschließend auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. Februar 2013, Nr 47195/06, in der Sache Müller‑Hartburg gegen Österreich hinzuweisen, wonach Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche im Sinn des Art 6 Abs 1 EMRK darstellen. Infolge Verneinung sämtlicher (sogenannter Engel‑)Kriterien für deren Einordnung als Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage findet (trotz der an Verurteilung durch ein Strafgericht geknüpften Rechtsfolge des Amtsverlusts nach § 27 StGB) Art 6 Abs 3 EMRK keine Anwendung.

Der Oberste Gerichtshof findet hier keinen Anlass, die Eingabe des Norbert N***** dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien oder dem Disziplinaranwalt beim Oberlandesgericht Graz als für die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichts Wien Dr. S*****, die Richterin des Oberlandesgerichts Wien Mag. M***** und den Richter des Oberlandesgerichts Wien Mag. W***** sachlich zuständigem Disziplinargericht weiterzuleiten.

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