OGH 10Nc17/15d

OGH10Nc17/15d11.6.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden und durch den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj V***** V***** V*****, geboren am *****, 2. des mj G***** V*****, geboren am ***** und 3. des mj L***** V*****, geboren am *****, wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 2 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0100NC00017.15D.0611.000

 

Spruch:

Die vom Bezirksgericht Dornbirn verfügte Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Meidling wird genehmigt.

Begründung

Die drei Minderjährigen V***** V***** (geboren 2012), G***** (geboren 2013) und L***** (geboren 2014) sind die Kinder des J***** und der R***** V*****. Die Ehe der Eltern ist geschieden. Nach der Aktenlage wohnt die gesamte Familie derzeit in der Wohnung der mütterlichen Großmutter in Wien 12; die Mutter und die Minderjährigen V***** V***** und L***** haben an dieser Adresse seit März 2015 ihren Hauptwohnsitz. Zuvor waren sie ab Herbst 2014 in Dornbirn an der Adresse der väterlichen Großeltern V***** V***** und S***** V***** gemeldet.

Es liegen widerstreitende Obsorgeanträge vor, über die noch keine Entscheidung ergangen ist:

Am 3. 2. 2015 stellte der Vater der Minderjährigen beim Bezirksgericht Dornbirn den Antrag, ihm und der Mutter der Kinder die gemeinsame Obsorge für die nach der Scheidung geborenen Minderjährigen G***** und L***** zu übertragen (ON 22).

Am 2. 3. 2015 stellte der väterliche Großvater beim Bezirksgericht Dornbirn den Antrag, ihm die alleinige Obsorge für alle drei Minderjährigen zu übertragen (ON 25).

Aus beiden Anträgen ergibt sich übereinstimmend, dass die Minderjährigen und ihre Eltern damals noch an der Adresse der väterlichen Großeltern in Dornbirn wohnhaft waren.

Als dem Bezirksgericht Dornbirn zur Kenntnis gelangte, dass die Minderjährigen und deren Mutter ab 20. 3. 2015 in Wien gemeldet waren, übertrug es mit mittlerweile rechtskräftigem Beschluss vom 1. 4. 2015, GZ 8 Ps 249/12g‑33, die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache hinsichtlich aller drei Minderjährigen an das Bezirksgericht Meidling.

Das Bezirksgericht Meidling verweigerte die Übernahme der Zuständigkeit unter Hinweis darauf, dass die Mutter nur bekannt gegeben habe, „momentan“ gemeinsam mit den Minderjährigen bei der mütterlichen Großmutter in Wien zu wohnen. Weiters sei wegen der umfangreichen Kenntnis der Sachlage und infolge des persönlichen Eindrucks davon auszugehen, dass das übertragende Gericht wesentlich rascher bereits vorhandene Entscheidungsgrundlagen verwerten könne. Die Übertragung der Zuständigkeit sei daher unzweckmäßig.

Das übertragende Gericht legte aufgrund dieser Weigerung den Akt dem Obersten Gerichtshof als gemeinsam übergeordnetes Gericht zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.

Aus einem Aktenvermerk der zuständigen Richterin des übertragenden Gerichts geht hervor, dass sie die Gerichtsabteilung im Januar 2015 übernommen und bisher von keinem der Beteiligten einen persönlichen Eindruck gewonnen habe. Weiters hielt die Richterin fest, dass der Vater der Minderjährigen im Rahmen eines Telefonats erklärt habe, die Familie werde nunmehr dauerhaft in Wien bleiben. Erhebungen über die aktuelle Lebenssituation der Mutter, des Vaters und der Kinder sowie des väterlichen Großvaters wurden in den laufenden Obsorgeverfahren vom übertragenden Gericht noch nicht veranlasst.

Rechtliche Beurteilung

Die Übertragung ist berechtigt.

Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist die Übertragung nur dann wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit übernimmt oder im Falle der Weigerung des anderen Gerichts eine Genehmigung durch das den beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht ‑ hier der Oberste Gerichtshof ‑ erfolgt.

Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Wohl des Kindes (RIS‑Justiz RS0047074). Dabei ist in der Regel das Naheverhältnis zwischen Pflegebefohlenen und Gericht von wesentlicher Bedeutung. Im Allgemeinen ist daher das Gericht am besten geeignet, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält (RIS‑Justiz RS0047300). Offene Anträge sind grundsätzlich kein Übertragungshindernis, wenn sich das übertragende Gericht mit den gestellten Anträgen noch nicht eingehend befasst hat (RIS‑Justiz RS0047032 [T8]).

Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist dabei stets von der aktuellen Lage auszugehen, Zukunftsprognosen sind miteinzubeziehen. Nur wenn eine Erforschung aller maßgeblichen Lebensumstände der Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet. An diesen Überlegungen ist die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen (RIS‑Justiz RS0047027 [T5, T6]).

Wie sich im vorliegenden Fall aus der Aktenlage (zusammengefasst) ergibt, war die aus Wien stammende R***** V***** mit ihrer Tochter V***** V***** vorerst bei den väterlichen Großeltern V***** V***** und S***** V***** in Dornbirn wohnhaft. Als sie nach Wien zurückzog, übertrug das Bezirksgericht Dornbirn mit Beschluss vom 9. 1. 2013, GZ 8 Ps 248/12g‑6, die alleinige Obsorge für das damals etwa 6‑monatige Kind auf den in Vorarlberg verbleibenden Vater J***** V*****. Am 17. 5. 2013 erteilte dieser vor der Bezirkshauptmannschaft Bregenz seine Zustimmung dazu, dass seine (in Dornbirn wohnhaften) Eltern das Kind pflegen und erziehen. In der Folge zog aber auch der Vater gemeinsam mit dem Kind aus Vorarlberg nach Wien zu dessen Mutter. Am 11. 2. 2014 beantragte der väterliche Großvater (erstmals) beim Bezirksgericht Dornbirn, ihm die alleinige Obsorge für die minderjährige V***** V***** zu übertragen. Dieser Antrag wurde nach Durchführung von Erhebungen und Einvernahmen mit Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn vom 15. 7. 2014, GZ 8 Ps 249/12g‑20, rechtskräftig abgewiesen. 2013 kam der minderjährige G***** und 2014 der minderjährige L***** zur Welt. Ab Juni 2014 lebten die Eltern mit den Kindern für acht Monate in einer betreuten Einrichtung in Wien, kehrten aber dann wieder nach Dornbirn zu den väterlichen Großeltern zurück, bevor sie zuletzt neuerlich nach Wien an die Adresse der mütterlichen Großmutter zogen.

Demnach verfügt das übertragende Gericht im nunmehr anhängigen Obsorgestreit über Sachkenntnisse nur aufgrund des ‑ allein die Minderjährige V***** V***** betreffenden ‑ Vorverfahrens AZ 8 Ps 249/12g. Da zwischenzeitig ein Richterwechsel stattgefunden hat, hat die nunmehr zuständige Richterin des übertragenden Gerichts aus diesem Vorverfahren jedoch keine persönlichen Eindrücke gewonnen. Erhebungsergebnisse liegen im nunmehrigen Obsorgeverfahren bisher nicht vor. Der vom väterlichen Großvater gestellte Obsorgeantrag wurde den Eltern lediglich zur Äußerung zugestellt, Erhebungen zur aktuellen Lebenssituation der Mutter und des Vaters und zu deren jeweiligen Zukunftsplänen sowie zur Lebenssituation der Kinder sind nicht vorhanden. Bestehen aber über diese für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände keine Kenntnisse, sind die entsprechenden Erhebungen effizienterweise nur vom nunmehrigen Wohnsitzgericht der Eltern und der Kinder zu führen (RIS‑Justiz RS0047027 [T4]). Allein der Umstand, dass die Eltern der Minderjährigen in der Vergangenheit bereits mehrfach ihren Aufenthaltsort von Wien nach Vorarlberg und wieder zurück verlegt haben, lässt nicht die Schlussfolgerung zu, dass sie auch diesmal in absehbarer Zeit wieder in den Sprengel des Bezirksgerichts Dornbirn zurückkehren werden. Das Gericht ihres nunmehrigen Aufenthalts bzw Wohnsitzes erscheint während des Verfahrens über die widerstreitenden Obsorgeanträge demnach eher in der Lage, die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerecht und umfassend zu beurteilen (RIS‑Justiz RS0047027 [T9]). Die Zuständigkeitsübertragung erscheint daher zweckmäßig.

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