European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00013.15T.0226.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls ab und wirft im Regelfall keine Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf (RIS‑Justiz RS0115719 ua). Bei der Entscheidung ist ausschließlich das Wohl des Kindes maßgebend.
Dem Revisionsrekurs ist beizupflichten, dass dabei grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist (RIS‑Justiz RS0048699; RS0047841). Die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten kann nur als äußerste Maßnahme gerechtfertigt werden (5 Ob 103/10y mwN; 8 Ob 48/14p; Thunhart in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang ³ §§ 176, 176b Rz 4 uva). Diese Grundsätze gelten auch für die Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers nach (nunmehr) § 211 Abs 1 zweiter Satz ABGB, wenn im Bereich von Pflege und Erziehung Gefahr im Verzug ist (1 Ob 4/12p). Auch die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzten Interimsmaßnahmen müssen den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des gelindesten Mittels (§ 182 ABGB) entsprechen. Der Grundsatz der Wahrung des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts der Eltern auf Obsorge für ihre Kinder ist für den Wirkungsbereich der öffentlichen Jugendwohlfahrt auch in § 2 Z 5 B‑KJHG 2013 verankert.
2. Eine Verletzung dieser Grundsätze wird hier aber letztlich nicht aufgezeigt.
Die Abschätzung, ob einem (hier Klein-)Kind durch den Verbleib beim bisher obsorgeberechtigten Elternteil unmittelbare und ernstliche Gefahr für seine körperliche und psychische Entwicklung droht, ist eine Zukunftsprognose mit den einer solchen zwangsläufig anhaftenden Unsicherheiten. Eine verantwortungsvolle Wahrnehmung dieser Aufgabe erfordert es, aus den gesicherten Erfahrungen der Vergangenheit der betroffenen Personen und den möglichst umfassend festgestellten gegenwärtigen Umständen eine überwiegende wahrscheinliche Entwicklung vorherzusagen und die für und wider eine Maßnahme sprechenden Argumente mit den Erfordernissen des Kindeswohls abzuwägen. Dazu zählt auch die schwierige Ermessensentscheidung, welche der für wahrscheinlich erkannten Fehlentwicklungen dem betroffenen Kind sozusagen als allgemeines Lebensrisiko gerade noch zuzumuten sind, und wann von einer so drängenden Gefährdung des psychischen oder physischen Kindeswohls auszugehen ist, dass sein Interesse an einer Betreuung durch die Ursprungsfamilie bzw einen Elternteil nachrangig werden muss.
Die mj E***** wurde als Säugling im Alter von nicht ganz vier Monaten durch die vom Erstgericht bestätigte Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers der Obsorge der Mutter entzogen und lebt seither bei (Dauer‑)Pflegeeltern.
Nach den ‑ im Revisionsverfahren nicht mehr überprüfbaren ‑ Feststellungen der Tatsacheninstanzen weist die Mutter eine psychische Beeinträchtigung im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des impulsiven Typs auf und bedarf vor dem Hintergrund der Diagnose einer bipolaren Störung dauerhafter Medikation. Die Mutter weist vielfache Defizite sowohl in der Bewältigung ihrer eigenen Lebenssituation, als auch in ihrer Fähigkeit, ein Kind zu erziehen und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, auf. Trotz besten subjektiven Bemühens wäre sie zur Versorgung des Kindes nur unter ständiger Hilfe und Assistenz in der Lage; die Fürsorge, die Geborgenheit und den Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes kann sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gewährleisten. „Aus kinderpsychologischer Sicht“ wäre das Wohl der Minderjährigen bei einer Obsorgeausübung durch die Mutter aufgrund deren persönlicher Inkonsistenz und Instabilität gefährdet.
Die Revisionsrekurswerberin hat neben der mj E***** noch drei ältere Kinder, die in Fremdpflege untergebracht sind, weil die Mutter mit den Erziehungsaufgaben trotz der ihr gebotenen laufenden Unterstützung durch den Jugendhilfeträger überfordert war.
Vor dem Hintergrund dieser langfristig ungünstigen Prognosen haben die Vorinstanzen dem in der Revision hervorgehobenen Umstand, dass sich die Mutter in den letzten Wochen vor der Abnahme der Minderjährigen in einer (medikamentös) stabilisierten Phase befand und in dieser Zeit in der Lage war, die noch überschaubaren Bedürfnisse eines Säuglings adäquat zu befriedigen, ohne aufzugreifenden Rechtsirrtum kein entscheidendes Gewicht beigemessen.
Die festgestellte hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter ‑ trotz unzweifelhaft besten Willens ‑ aufgrund ihrer psychischen Situation nicht in der Lage sein würde, dem heranwachsenden Kleinkind mit seinen wachsenden Bedürfnissen gerecht zu werden, lässt die Entscheidung der Vorinstanzen jedenfalls vertretbar erscheinen. Ein Betreuungswechsel erst in einer späteren Lebensphase wäre notorisch mit einer wesentlich größeren Belastung des Kindes verbunden und seinem Wohl zusätzlich abträglich.
Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG wird im außerordentlichen Revisionsrekurs insgesamt nicht aufgezeigt, weshalb er zurückzuweisen ist (§ 71 Abs 3 AußStrG).
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