OGH 10Ob74/14a

OGH10Ob74/14a16.12.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.

 Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder R*****, geboren am 5. Dezember 2006, und J*****, geboren am 10. April 2010, beide vertreten durch das Land Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung, Bezirk 21, 1210 Wien, Am Spitz 1), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der beiden Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. August 2014, GZ 43 R 438/14a, 43 R 439/14y‑45, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Beschlüsse des Bezirksgerichts Leopoldstadt jeweils vom 6. Juni 2014, GZ 6 Pu 47/14z‑34 und ‑35, abgeändert wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0100OB00074.14A.1216.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die beiden Minderjährigen sind österreichische Staatsangehörige und leben gemeinsam mit ihrer Mutter, die ebenfalls österreichische Staatsangehörige ist, seit dem Jahr 2012 in der Schweiz. Auch der Vater ist österreichischer Staatsbürger und nach der Aktenlage immer in Österreich aufhältig gewesen.

Der Vater ist aufgrund einer am 25. 1. 2007 (betreffend R*****) bzw 10. 6. 2010 (betreffend J*****) vor dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger abgeschlossenen Vereinbarung zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von jeweils 150 EUR an die beiden Minderjährigen verpflichtet. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 8. 2. 2012 (ON 22 und 23) wurde die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von jeweils 150 EUR monatlich an die beiden Minderjährigen mit Ende des Monats Jänner 2012 mit der Begründung eingestellt, dass sich die Mutter mit den beiden Minderjährigen nunmehr in der Schweiz niedergelassen habe.

Am 28. 5. 2014 beantragten die beiden Minderjährigen die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von jeweils 150 EUR monatlich.

Das Erstgericht bewilligte die beantragten Unterhaltsvorschüsse im Wesentlichen mit der Begründung, der Unterhaltsschuldner habe nach Eintritt der Vollstreckbarkeit den laufenden Unterhalt nicht zur Gänze geleistet, weshalb gegen ihn am 28. 4. 2014 ein Antrag auf Bewilligung der Gehaltsexekution eingebracht worden sei.

Das Rekursgericht wies in Stattgebung des Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Unterhaltsvorschussanträge ab. Es verwies in seiner rechtlichen Beurteilung im Wesentlichen darauf, dass die VO (EG) 883/2004 und die diesbezügliche Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 seit 1. 4. 2012 auch für Schweizer Staatsbürger gelten, wenn diese Berührungspunkte mit einem EU‑Staat aufweisen, und sie daher auch im vorliegenden Fall anzuwenden seien. Die VO (EG) 883/2004 sehe eine Exportverpflichtung von Unterhaltsvorschüssen nicht mehr vor, sodass Unterhaltsvorschüsse grundsätzlich nicht mehr in das Ausland zu exportieren seien. Nach der Rechtsprechung könne der Umstand, dass Unterhaltsvorschussleistungen ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausgenommen seien, nicht dazu führen, dass deshalb eine allfällige Exportverpflichtung von Unterhaltsvorschüssen nicht allenfalls aus der VO (EU) 492/2011 abgeleitet werden könnte. Im vorliegenden Fall sei jedoch kein Antragsvorbringen erstattet worden und es würden nach der Aktenlage auch keine Anhaltspunkte für eine solche Exportverpflichtung vorliegen. Mangels eines Aufenthalts der beiden antragstellenden Minderjährigen im Inland seien daher die in § 2 Abs 1 UVG normierten Voraussetzungen für eine Vorschussgewährung nicht erfüllt.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil ‑ soweit überblickbar ‑ noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Voraussetzungen für eine Exportverpflichtung von Unterhaltsvorschüssen auf der Grundlage der VO (EU) 492/2011 in Bezug auf antragstellende Minderjährige mit österreichischer Staatsbürgerschaft und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der beiden Minderjährigen, vertreten durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger, mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragstattgebenden Entscheidung des Erstgerichts.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden von den übrigen Verfahrensparteien nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Rechtsmittelwerber machen geltend, die VO (EU) 492/2011 untersage ganz klar jegliche Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit von EU‑Bürgern. Dies müsse in weiterer Folge auch bedeuten, dass niemand aufgrund seines Aufenthalts ‑ unabhängig von der Staatsbürgerschaft ‑ diskriminiert werden dürfe. Unter diesem Gesichtspunkt bestehe daher im konkreten Fall eine Exportverpflichtung von Unterhaltsvorschüssen.

Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

1. Es ist nicht strittig, dass aufgrund des Sektoriellen Abkommens über die Freizügigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits auch in Bezug der EU‑Mitgliedstaaten zur Schweiz seit 1. 6. 2002 das EU‑Recht über die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 2002/114, 1) gilt. Seit dem Inkrafttreten des Beschlusses 1/2012 des Gemischten Ausschusses mit 1. 4. 2012 sind die VO (EG) 883/2004 sowie die VO (EG) 987/2009 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auch im Verhältnis zur Schweiz anwendbar (vgl Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht 39. Lfg Überblick Rz 17 und 24 f; 10 Ob 60/12i ua).

1.1 In der neuen Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004, die die VO (EWG) 1408/71 mit 1. 5. 2010 größtenteils abgelöst hat, sind die Unterhaltsvorschüsse ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgeschlossen (vgl Anhang I). Dies bedeutet, dass seit 1. 5. 2010 Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf der Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind. Die vom EuGH für den österreichischen Unterhaltsvorschuss nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht daher aufgrund der Unanwendbarkeit des (neuen) europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 nicht mehr (RIS‑Justiz RS0125933). Es ist daher auch nicht strittig, dass das Begehren der beiden Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nicht mit Erfolg auf die Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 gestützt werden kann.

2. Die Frage, ob bei Sachverhalten mit Unionsbezug österreichische Unterhaltsvorschüsse gebühren, ist daher seit der Geltung der neuen Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004 seit 1. 5. 2010 (wieder) auf der Grundlage des § 2 UVG zu lösen. Danach haben Anspruch auf Vorschüsse minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Allerdings darf bei der Anwendung dieser Bestimmung das europäische Primär‑ und Sekundärrecht nicht ausgeblendet werden ( Neumayr in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 1 UVG Rz 17).

2.1 So zwingt Art 18 AEUV, der ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft innerhalb des Unionsrechts enthält, dazu, allen Kindern mit der Staatsbürgerschaft eines EU‑Mitgliedstaats während ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Kindern mit österreichischer Staatsbürgerschaft und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland Unterhaltsvorschüsse zu gewähren. Ein Vorbehalt zugunsten österreichischer Staatsbürger verstößt gegen das primärrechtliche Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV, weshalb § 2 Abs 1 UVG dahin inhaltlich zu korrigieren ist, dass Kinder mit der Staatsbürgerschaft eines EU‑Mitgliedstaats bei gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich nicht vom österreichischen Unterhaltsvorschuss ausgeschlossen werden dürfen ( Neumayr in Schwimann/Kodek , ABGB 4 § 1 UVG Rz 17 ff mwN). Auch daraus ist für den Rechtsstandpunkt der beiden Minderjährigen im vorliegenden Fall nichts zu gewinnen, weil sie ohnedies die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.

3. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für einen Vorschussanspruch in Österreich ist nach § 2 Abs 1 UVG ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in Österreich, welcher bei den beiden Antragstellern im vorliegenden Fall unbestritten nicht vorliegt. Auch wenn dieses Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, wie bereits dargelegt wurde, nicht mehr am europäischen Koordinierungsrecht zu messen ist, muss es dennoch weiterhin auf seine Vereinbarkeit mit dem sonstigen Unionsrecht überprüft werden. Der Rechtsanwender ist nicht von der Verpflichtung befreit, sich zu vergewissern, dass keine andere Vorschrift des Unionsrechts, insbesondere die (frühere) Freizügigkeitsverordnung (EWG) 1612/68, dem in § 2 Abs 1 UVG normierten Aufenthaltskriterium entgegensteht (vgl 10 Ob 19/13m mwN).

3.1 Es könnte daher fraglich sein, ob das in § 2 Abs 1 UVG normierte Aufenthaltskriterium mit der Freizügigkeitsverordnung (EU) 492/2011, die die mehrfach geänderte Freizügigkeitsverordnung (EWG) 1612/68 mit 16. 6. 2011 abgelöst hat, vereinbar ist. Nach Art 7 Abs 2 dieser VO genießt ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer. Es wurde vom erkennenden Senat bereits näher begründet, dass es sich beim österreichischen Unterhaltsvorschuss um eine „soziale Vergünstigung“ im Sinn des Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011 handelt (vgl 10 Ob 15/12x). Es wurde aber ebenfalls bereits darauf hingewiesen (vgl 10 Ob 19/13m), dass dieser Regelung als Teil der als arbeitsrechtlicher Annex zu Art 45 AEUV ergangenen VO (EU) 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union der Gedanke zugrundeliegt, mittels eines Diskriminierungsverbots jede unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu vermeiden. Rechtlich bildet Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011 im System des Europäischen Sozialrechts somit einen Auffangtatbestand zur Komplettierung des sozialrechtlichen Schutzes zugewanderter Arbeitnehmer ( Steinmeyer in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Teil 3 VO 492/2011 Art 7 Rz 1 f). Ziel der VO (EU) 492/2011 ist es daher, den Wanderarbeitnehmer in das soziale Leben des Beschäftigungsstaats zu integrieren (vgl Fuchs in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Einführung Rz 21 mwN). Anspruch auf soziale Vergünstigung im Sinn des Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011 haben daher Wanderarbeitnehmer bzw deren Familienangehörige (vgl Steinmeyer in Fuchs aaO Art 7 Rz 17 mwN).

3.2 Da im vorliegenden Fall nach der Aktenlage ‑ Gegenteiliges wurde auch von den Antragstellern nicht behauptet ‑ weder der Vater noch die Mutter der beiden minderjährigen Kinder Wanderarbeitnehmer/in ist, können die Antragsteller ihr Unterhaltsvorschussbegehren auch nicht mit Erfolg auf Art 7 Abs 2 VO (EU) 492/2011 stützen (vgl 10 Ob 19/13m).

Dem Revisionsrekurs musste daher aus den dargelegten Gründen ein Erfolg versagt bleiben.

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