OGH 6Ob7/14v

OGH6Ob7/14v10.4.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Grohmann und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Univ.‑Prof. Dr. Kodek als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin V***** B*****, vertreten durch Dr. Wolf-Georg Schärf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der K***** R*****, geboren am 15. Februar 1995, und der Minderjährigen M***** R*****, geboren am 23. Juli 2010, und Mi***** R*****, geboren am 30. Jänner 2012, über den Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. Oktober 2013, GZ 44 R 559/13a‑86, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 20. August 2013, GZ 7 Ps 68/11b‑81, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0060OB00007.14V.0410.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die Vorlage des Antrags auf Rückführung der K***** R***** und der Minderjährigen M***** und Mi***** R***** an das Bundesministerium für Justiz als Zentrale Behörde aufgetragen.

 

Begründung:

Die Antragstellerin beantragte beim Erstgericht die Rückführung der K***** R***** und deren Kinder M***** sowie Mi***** R*****, deren Großmutter die Antragstellerin ist, von Serbien nach Österreich nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 1988/512 (HKÜ).

Das Erstgericht legte den Antrag dem Bundesministerium für Justiz als zentraler Behörde im Sinn des Art 6 HKÜ iVm § 1 des Bundesgesetzes vom 9. Juni 1988 zur Durchführung des Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 1988/513 (DG-HKÜ), mit dem Ersuchen um Übermittlung an die Justizbehörde der Republik Serbien vor.

Das Bundesministerium für Justiz stellte den Antrag dem Erstgericht zurück und führte sinngemäß aus, dass und aus welchen Gründen der Antrag unschlüssig sei; die Antragstellerin möge weitere Angaben machen, die die Bedenken gegen die Schlüssigkeit des Antrags ausräumen könnten.

In der Folge kam es wegen der notwendigen formellen und materiellen Erfordernisse des Rückführungsantrags zu mehrfachen Kontakten zwischen dem Bundesministerium für Justiz und dem Erstgericht einerseits und zwischen diesem und dem Vertreter der Antragstellerin andererseits.

Nachdem der Vertreter der Antragstellerin über Aufforderung des Erstgerichts einen neuen „umfangreicheren“ Schriftsatz (offenbar zur Beseitigung der formellen und materiellen Mängel des Antrags) zugesagt hatte und ein solcher auch nach weiteren sieben Monaten nicht eingelangt war, wies das Erstgericht mit Beschluss die Vorlage des Antrags an das Bundesministerium für Justiz vorerst ab.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig ist; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen das Gericht im Rahmen seiner Prüfungskompetenz gemäß § 4 DG-HKÜ eine Vorlage eines Rückgabeantrags an das Bundesministerium für Justiz beschlussmäßig ablehnen könne.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1.  Da die Entscheidungen der Vorinstanzen einer a-limine-Zurückweisung gleichkommen, ist das Rechtsmittelverfahren einseitig.

2. Anzuwendende Rechtsnormen:

Zentrale Behörde im Sinn des Art 6 HKÜ ist in Österreich das Bundesministerium für Justiz (§ 1 DG-HKÜ).

Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts verbracht oder zurückgehalten worden, so kann sie sich entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige zentrale Behörde oder an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen (Art 8 HKÜ).

Ein Antrag auf Rückgabe eines Kindes oder auf Ausübung des Rechts auf persönlichen Verkehr mit dem Kind, der vom Bundesministerium für Justiz an eine ausländische zentrale Behörde übermittelt werden soll, ist vom Antragsteller (Art 8 Abs 1 HKÜ) bei einem zur Ausübung der Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen berufenen Bezirksgericht schriftlich anzubringen oder zu Protokoll zu geben (§ 1 DG-HKÜ).

Das in § 2 DG-HKÜ genannte Gericht hat zu prüfen, ob der Antrag und die Beilagen den Erfordernissen des Art 8 HKÜ entsprechen, ob die nach Art 24 Abs 1 HKÜ erforderlichen Übersetzungen beigefügt sind sowie ob die im Art 28 HKÜ genannte Vollmacht für die ausländische zentrale Behörde angeschlossen ist, und sodann den Antrag und die Beilagen dem Bundesministerium für Justiz unverzüglich vorzulegen (§ 4 Abs 1 DG-HKÜ).

Hat die zentrale Behörde, bei der ein Antrag nach Art 8 HKÜ eingeht, Grund zu der Annahme, dass sich das Kind in einem anderen Vertragsstaat befindet, so übermittelt sie den Antrag unmittelbar und unverzüglich der zentralen Behörde dieses Staates; sie unterrichtet davon die ersuchende zentrale Behörde oder gegebenenfalls den Antragsteller (Art 9 HKÜ).

Ist

offenkundig, dass die

Voraussetzungen des HKÜ nicht erfüllt sind oder dass der Antrag sonstwie unbegründet ist, so ist eine

zentrale Behörde nicht verpflichtet, den Antrag anzunehmen. In diesem Fall teilt die

zentrale Behörde dem Antragsteller oder gegebenenfalls der zentralen Behörde, die ihr den Antrag übermittelt hat, umgehend ihre Gründe mit (Art 27 HKÜ).

3. Folgerungen:

3.1.  Bei Vorliegen von Staatsverträgen oder internationalen Übereinkommen sind vorrangig diese Staatsverträge oder Übereinkommen maßgebend, was sich schon aus der Bindung an solche Verträge und Übereinkommen ergibt, die nicht durch innerstaatliche Gesetzgebung unterlaufen werden dürfen (vgl 3 Ob 123/88; jüngst 6 Ob 33/14t). Deshalb kommt es auch im Anwendungsbereich des HKÜ primär auf dessen Regelungen und erst sekundär auf die Bestimmungen des DG-HKÜ an. Es ist somit zunächst zu klären, welchen Verfahrensgang das HKÜ bei einer ‑ wie hier ‑ Ausgangsentführung, das heißt bei einer behaupteten Entführung eines Kindes aus Österreich in einen anderen Staat vorsieht.

Dass es dazu eines ‑ dem österreichischen DG‑HKÜ entsprechenden - Ausführungs-, Durchführungs- oder Transformationsgesetzes grundsätzlich nicht bedarf, zeigt etwa die Rechtslage in der Schweiz, die eine derartige Regelung erst gar nicht erlassen hat ( Zürcher , Kindesentführung und Kindesrechte ‑ Verhältnis des Rückführungsrechts nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 zur UNO‑Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, in Breitschmid et alteri [Hrsg], Zürcher Studien zum Privatrecht 193 [2005] 37).

3.2. Nach Art 6, 8 HKÜ kann sich der Antragsteller bei einer Ausgangsentführung an die zentrale Behörde des Ursprungsstaats, in Österreich also an das Bundesministerium für Justiz, wenden, das nach Art 9 HKÜ den Antrag an die zentrale Behörde des Aufenthaltsstaats übermittelt. Bei offenkundig unbegründetem Antrag ist „eine“ zentrale Behörde (also entweder jene des Ursprungs- oder jene des Aufenthaltsstaats) nicht verpflichtet, den Antrag anzunehmen; dies teilt sie entweder dem Antragsteller oder der anderen zentralen Behörde mit.

3.3. Mit § 2 DG-HKÜ hat Österreich diesen Verfahrensablauf insofern modifiziert, als es darin zwingend (arg: „ist … anzubringen“) die Einbringung des Rückführungsantrags bei einem (gemeint: irgendeinem österreichischen [Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB4 ErgBd 1a {2013} § 162 Rz 17 aE]) Bezirksgericht anordnet. Darüber hinaus überträgt § 4 Abs 1 DG-HKÜ diesem Gericht unter anderem die Prüfung, ob der Rückführungsantrag den Erfordernissen des Art 8 HKÜ entspricht, somit auch die Prüfung der vom Antragsteller geltend gemachten „Gründe für seinen Anspruch auf Rückgabe des Kindes“ (Art 8 lit c HKÜ), worunter zwangslos auch eine Schlüssigkeitsprüfung verstanden werden kann.

Dass durch § 4 Abs 1 DG-HKÜ an sich der zentralen Behörde obliegende Aufgaben an das Gericht ausgelagert wurden, hat der Gesetzgeber selbst erkannt. Die ErläutRV (471 BlgNR 17. GP  3 [6] zu § 4 DG-HKÜ) führen nämlich aus:

Dadurch [gemeint: durch die Prüfungspflicht des Gerichts] wird im Interesse des Antragstellers sichergestellt, dass die beim Bundesministerium für Justiz einlangenden Anträge den Erfordernissen des Übereinkommens entsprechen, sodass eine mit Zeitverlusten verbundene Rückstellung an das Bezirksgericht zur Verbesserung in den meisten Fällen entbehrlich sein wird. Ein Tätigwerden nach dem Übereinkommen abzulehnen, steht jedoch nur dem Bundesministerium für Justiz als österreichische zentrale Behörde zu (Art 27 des Übereinkommens). Es handelt sich hiebei nur um Fälle, in denen in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise feststeht, dass das Übereinkommen nicht anwendbar ist (zB wenn das widerrechtlich verbrachte oder zurückbehaltene Kind bereits das 16. Lebensjahr vollendet hat; vgl Art 4 des Übereinkommens).

 

3.4.  Damit verpflichtet § 4 Abs 1 DG-HKÜ zwar das Gericht, bei dem der Antrag auf Rückführung eingebracht wurde, vor dessen Vorlage an das Bundesministerium für Justiz bei allfälligen (in § 4 DG-HKÜ genannten) Mängeln des Antrags dem Antragsteller einen Verbesserungsauftrag zu erteilen. Aus Art 27 HKÜ und den damit übereinstimmenden ErläutRV zu § 4 DG-HKÜ ergibt sich jedoch, dass die Ablehnung der Tätigkeit nach dem HKÜ (im Ursprungsstaat) nicht dem zur Entgegennahme eines Rückführungsantrags zuständigen Gericht (§ 2 DG-HKÜ), sondern nur dem Bundesministerium für Justiz als zentraler Behörde zukommt. Den Beschlüssen der Vorinstanzen fehlt es somit an einer Rechtsgrundlage, weshalb sie ersatzlos zu beheben waren.

3.5.  In welcher Form das Bundesministerium für Justiz es dem Antragsteller gegenüber darstellt, den Antrag im Sinn des Art 27 HKÜ „nicht anzunehmen“, und ob beziehungsweise in welcher Form es dagegen allenfalls ein Rechtsmittel gibt, lässt sich weder dem HKÜ noch dem DG‑HKÜ entnehmen. Da in Österreich aber ‑ dies im Gegensatz etwa zu Deutschland, wo § 8 IntFamRVG dem Antragsteller bei Nichtannahme seines Antrags durch die zentrale Behörde (das Bundesamt für Justiz [§ 3 IntFamRVG]) eine Antragstellung beim zuständigen Oberlandesgericht gewährt ‑ eine dem vergleichbare Regelung fehlt und im Übrigen der Antragsteller sich nach Art 8 HKÜ ohnehin unmittelbar auch an die zentrale Behörde des Aufenthaltsstaats wenden kann, scheint die österreichische Rechtslage eine Abhilfe gegen ein Vorgehen des Bundesministeriums für Justiz im Sinne des Art 27 HKÜ nicht anzubieten.

3.6.  Letztlich bedarf es aber einer weitergehenden Vertiefung dieser Frage durch den Obersten Gerichtshof im derzeitigen Verfahrensstadium nicht. Das Erstgericht wird nunmehr ‑ nach ergebnislosen Verbesserungsversuchen ‑ den Antrag neuerlich dem Bundesministerium für Justiz unter Darstellung der erfolglosen Verbesserungsversuche vorzulegen haben. Damit wird das (gerichtliche) Rückführungsverfahren beendet sein (vgl Gitschthaler aaO).

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