OGH 14Os72/12p

OGH14Os72/12p20.11.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. November 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fruhmann als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung des Ebrahim R***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21. März 2012, GZ 063 Hv 186/11z‑61, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0140OS00072.12P.1120.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft, Ebrahim R***** nach § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, weil er am 22. März 2011 in Wien unter dem Einfluss einer Geisteskrankheit in Form einer paranoiden Schizophrenie, sohin eines seine Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruhte, Ismail K***** eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zugefügt habe, indem er ihm mit einem Klappmesser einen Stich in den Oberbauch versetzte, wodurch dieser eine ca 8 cm tiefe Schnittwunde mit Magenöffnung im Bereich des zentralen Oberbauches erlitt, und dadurch das Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB begangen habe, abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen aus § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die eine Beurteilung der Anlasstat als Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 zweiter Fall (iVm § 81 Abs 1 Z 1) StGB und demzufolge die Einweisung Ebrahim R***** in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB anstrebt, ist nicht berechtigt.

Soweit im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde wesentlich hat das Erstgericht folgenden Sachverhalt festgestellt:

Am 22. März 2011 erlitt Ebrahim R*****, der 2006 psychisch erkrankt war, einen akuten Ausbruch von paranoider Schizophrenie mit anhaltender Störung des Affekts, des Denkens sowie des Realitäts‑ und Wahrnehmungsmodus im Zusammenhang mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Aufgrund dieser psychotischen Störung war er weder diskretions‑ noch dispositionsfähig.

Am Abend des 22. März 2011 arbeiteten Habib S***** und Ismail K***** in ihrem Imbissstand. Ebrahim R***** hielt sich in diesem Bereich auf und bat die beiden und andere Personen um Zigaretten und alkoholische Getränke. Dabei hantierte er mit einem kleinen Gegenstand.

Als sein Begehren auch von den Inhabern des Imbissstands abgelehnt wurde, versetzte er „dem Würstelstand bzw dem daneben gelegenen Kiosk einen Fußtritt und ging anschließend weg“.

Habib S***** und Ismail K***** eilten Ebrahim R***** sofort nach. „Nachdem Habib S***** den Betroffenen in einiger Entfernung vom Würstelstand gestellt hatte, versetze er ihm (nach seinen eigenen Angaben) einen Faustschlag, woraufhin der Betroffene ein Klappmesser zog. Zwischenzeitig war Isamail K***** nachgekommen, woraufhin der Betroffene mit dem Messer eine seitlich schlagende Bewegung, wuchtig in Richtung der beiden Personen ausführte und den Isamail K***** im Bauchbereich traf“, der dadurch eine annähernd horizontal verlaufende, rund 10 cm lange und 7 cm tiefe, klaffende „Stich/Schnittwunde“ mit Öffnung der Magenvorderwand erlitt.

Der Betroffene hatte sich durch die beiden Verfolger bedroht gefühlt, „was zwar durch seinen Geisteszustand begünstigt wurde, jedoch war er aufgrund der Tatsache, dass ihm Habib S***** einen Schlag bzw Faustschlag versetzte, berechtigt, von einem Angriff gegen seine Person auszugehen. Dementsprechend wollte er durch die Verwendung des Messers und die Schlag/Schnittbewegung in Richtung S***** und K***** einen tatsächlich drohenden Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit abwehren“ (US 7 f).

Vorauszuschicken ist, dass sich die vom Erstgericht durch das Zubilligen einer Notwehrsituation aufgeworfene Frage einer Privilegierung nach § 3 Abs 2 StGB (aus welchem Grund es die Unterbringung nämlich mangels Eignung des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB als Anlasstat ablehnte) in Bezug auf die gegenständliche Anlasstat gar nicht (mehr) stellt.

§ 3 Abs 2 StGB sieht bei Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt unter der weiteren Voraussetzung, dass die Überschreitung auf Fahrlässigkeit beruht, vor, dass der Täter nach dem Vorsatzdelikt entschuldigt ist (vgl EBRV 30 BlgNR 13. GP 63; Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 159, 164, 179). Verwirklicht der Verteidiger in seiner überschießenden Abwehr hingegen ein Fahrlässigkeitsdelikt, so bleibt bei schuldhafter Notwehrüberschreitung aus asthenischem Affekt die Strafbarkeit nach dem Fahrlässigkeitsdelikt erhalten (vgl Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 180).

Eine auf die Zufügung einer schweren Verletzung (eines) der Angreifer gerichtete, für die Subsumtion der Tat nach § 87 Abs 1 StGB erforderliche Absicht des Betroffenen, der „eine Abwehrbewegung gemacht habe“, haben die Tatrichter ausdrücklich verneint (US 7) und zu einem für die Subsumtion nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB erforderlichen Verletzungsvorsatz (§ 5 Abs 1 StGB) keine Aussage getroffen (US 7 f). Nach dem ‑ mangels Geltendmachung eines Feststellungsmangels durch die Staatsanwaltschaft ‑ allein maßgeblichen Urteilssachverhalt ist daher nicht von vorsätzlichem Handeln des Betroffenen auszugehen, womit § 3 Abs 2 StGB nicht in Rede steht.

Davon unabhängig könnte zwar das Verhalten des Ebrahim R***** dem Vergehen der fahrlässigen (schweren) Körperverletzung (unter besonders gefährlichen Verhältnissen) nach § 88 Abs 1 und Abs 4 zweiter Fall (§ 81 Abs 1 Z 1) StGB (vgl zu dessen Eignung als Anlasstat Ratz in WK² StGB § 21 Rz 20) subsumiert werden. Der Einsatz des Messers zur Ausführung einer wuchtigen, seitlich schlagenden Bewegung in unmittelbarer Nähe anderer Personen ist objektiv sorgfaltswidrig, weil sich ein mit den rechtlich geschützten Werten angemessen verbundener, besonnener und einsichtiger Mensch nicht so verhalten hätte (vgl Burgstaller in WK² StGB § 6 Rz 38), und ließ zudem nach allgemeiner Erfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines Schadens erwarten (RIS‑Justiz RS0092646).

Nach § 3 Abs 1 erster Satz StGB handelt aber in Notwehr, wer sich der Verteidigung bedient, die notwendig ist, um einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff auf Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit oder Vermögen von sich oder einem anderen abzuwehren.

Notwendig ist die Verteidigung, die aus der Situation des Angegriffenen gesehen und unter Beachtung objektiver Kriterien, gerade so weit in die Rechtsgüter des Angreifers eingreift, dass der Angriff verlässlich und endgültig abgewehrt werden kann.

Die Notwendigkeit der Abwehr beurteilt sich ex ante. Ist die Abwehrhandlung aus dieser Perspektive, also zum Zeitpunkt ihrer Vornahme, zulässig, so ändert sich an ihrer Rechtfertigung auch dann nichts, wenn die Verteidigung einen besonders „unglücklichen“ Verlauf nimmt und den Angreifer schwerer als erwartet beeinträchtigt. Entscheidend ist die Notwendigkeit der Abwehrhandlung, nicht des Abwehrerfolgs.

Das Maß der Abwehr bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls; regelmäßig nach der Art, der Wucht und der Intensität des abzuwehrenden Angriffs, nach der Gefährlichkeit des Angreifers und nach den zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mitteln, wobei auch Nebenumstände zu berücksichtigen sind. Ein Risiko betreffend die Effektivität seiner Verteidigung braucht der Verteidiger nicht einzugehen. Kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht, so hat er die gelindeste Abwehr zu wählen. Steht nur eine Möglichkeit offen, ist sie zur Verteidigung notwendig und daher gerechtfertigt (vgl zum Ganzen Lewisch in WK² StGB § 3 Rz 92 ff mwN).

Nach den Feststellungen hat Ebrahim R***** nichts getan, was das zur Abwehr des gegen ihn gerichteten Angriffs Notwendige überschritten hätte. Er hatte sich vom Ort des ursprünglichen Zusammentreffens entfernt, war von zwei Angreifern verfolgt und von einem bereits mit einem Faustschlag attackiert worden, als auch der Zweite zu ihm aufschloss. In dieser Situation ist auch unter dem Aspekt der Verlässlichkeit der Abwehrhandlung die Verwendung des Messers in der festgestellten Weise (keine gezielte Stichführung) gerechtfertigt. Ebrahim R***** kann im konkreten Einzelfall nicht abverlangt werden, sich gegen zwei Angreifer mit bloßen Händen zu wehren oder seine Widersacher mit dem Messer lediglich in einer Art und Weise zu bedrohen, die die Gefahr einer Verletzung keinesfalls mit sich gebracht hätte. Er musste sich aber auch nicht dem Risiko aussetzen, dass er durch das Zusammenwirken der beiden Angreifer entwaffnet und seine Waffe in der Folge gegen ihn gerichtet wird (vgl SSt 58/20). Seine Tat ist nach § 3 Abs 1 erster Satz StGB gerechtfertigt.

Dass Ebrahim R***** nur ein Bagatellangriff (vgl Lewisch in WK² StGB § 3 Rz 137, 142) gedroht hatte, hat das Erstgericht nicht festgestellt, womit sich die Frage nach einer (Un‑)Angemessenheit der Verteidigung im Sinn des zweiten Satzes des § 3 Abs 1 StGB nicht stellt.

Indem die Beschwerdeführerin bloß auf Basis der Feststellungen und der ‑ ihrerseits nicht näher begründeten (vgl US 9) ‑ rechtlichen Erwägungen der Tatrichter, ohne etwa im Sinn der obigen Ausführungen darzulegen, durch welches gelindere Mittel eine verlässliche und endgültige Abwehr des rechtswidrigen Angriffs möglich gewesen wäre, eine Beurteilung der Anlasstat als (nicht gerechtfertigtes) Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 zweiter Fall (§ 81 Abs 1 Z 1) StGB einfordert, wird sie den an eine Rechtsrüge (Z 9 lit a) gestellten Anforderungen einer methodengerechten Ableitung der begehrten rechtlichen Konsequenz aus dem Gesetz (vgl RIS‑Justiz RS0116565) nicht gerecht.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher ‑ in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur ‑ schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

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