OGH 3Ob190/12f

OGH3Ob190/12f14.11.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Philipp S*****, geboren am 1. Juni 1997, und mj Michael S*****, geboren am 23. Mai 2000, vertreten durch die Mutter Marion S*****, diese vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs des Vaters Dr. Christian S*****, Facharzt, *****, vertreten durch Dr. Helene Klaar Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 26. Jänner 2012, GZ 45 R 463/11p-82, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom 25. Juli 2011, GZ 30 PU 81/11w-70, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs des Vaters wird teilweise Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt lauten:

1. Der Vater ist schuldig, zusätzlich zu seiner laufenden Unterhaltsverpflichtung als Sonderbedarf für Therapiekosten

a) einen einmaligen Betrag in Höhe von 4.121,50 EUR für Philipp und

b) einen einmaligen Betrag in Höhe von 2.526,96 EUR für Michael

zu Handen der Mutter binnen 14 Tagen zu leisten.

2. Das Mehrbegehren, der Vater sei schuldig, einen weiteren Betrag von 2.104,90 EUR als Sonderbedarf für Therapiekosten für Philipp zu leisten, wird abgewiesen.

Text

Begründung

Den Gegenstand des am 12. Februar 2008 eingeleiteten Unterhaltsverfahrens (s ON U-1) bildet die Frage, ob der Vater verpflichtet ist, für seine beiden 1997 und 2000 geborenen Söhne Philipp und Michael die Kosten von Sonderbedarf in Form der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlungen in der Zeit von April 2005 bis Juni 2009 (Philipp) bzw von April 2005 bis ins Jahr 2006 (Michael) zu ersetzen, und zwar 6.136,40 EUR für Philipp und 2.526,96 EUR für Michael (siehe ON U-1, ON U-55 und ON U-61).

Diese Frage war bereits Gegenstand des im zweiten Rechtsgang ergangenen Aufhebungsbeschlusses des Obersten Gerichtshofs vom 13. Oktober 2010, AZ 3 Ob 144/10p (ON U-53). Seiner damaligen Entscheidung legte der Oberste Gerichtshof zugrunde, dass der Vater die Notwendigkeit der therapeutischen Behandlung der Kinder nicht mehr bestreitet, sodass dieser - im nunmehrigen Rechtsgang erneut aufgeworfene - Themenkomplex als erledigt anzusehen ist. Unter Punkt 4. des Beschlusses verlangte der Oberste Gerichtshof Feststellungen dazu, ob es möglich gewesen wäre, die Therapien auf Kosten der Krankenkasse durchzuführen, und ob der Wechsel von einem Behandler ohne Kassenvertrag zu einem Behandler mit Kassenvertrag mit der gebotenen Raschheit erfolgte.

Im nunmehr dritten Rechtsgang verpflichtete das Erstgericht den Vater zum Ersatz der gesamten Therapiekosten von 6.136,40 EUR und 2.526,96 EUR aus dem Titel des Sonderbedarfs (ON 70).

Es traf - neben anderen - folgende ergänzende Feststellungen:

Nachdem der Sachverständige im Obsorgeverfahren eine psychotherapeutische Betreuung der Kinder nahe gelegt hatte, machte die Mutter über Internet-Recherchen im Jahr 2004 die Psychotherapeutin Mag. D***** ausfindig. Über die Therapiekosten hat sie sich damals keine Gedanken gemacht, da angesichts der Probleme der Kinder dringende Behandlung geboten war. Sie zahlte die Behandlungskosten zunächst zur Gänze privat. Michael begann die Behandlung bei Mag. D***** am 1. April 2005 und Philipp am 13. April 2005.

Im Obsorgeverfahren vertrat der Sachverständige am 15. September 2005 die Ansicht, dass die Behandlungsmethode von Mag. D***** nicht die zu erwartenden Qualifikationen erfülle. Seiner Ansicht nach benötigen die Kinder einen ausgewiesenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, der mit ihnen Spieltherapie machen sollte.

Vom Sekretariat des Sachverständigen wurden der Mutter zwei Therapeuten empfohlen, und zwar Mag. B***** für Michael und Mag. S***** für Philipp. Mag. B***** hatte nur einen Platz mit Teilrefundierung durch die Wiener Gebietskrankenkasse frei. Mag. S***** hatte gar keinen Platz frei. Andere Therapeuten, deren Kosten zur Gänze von der Krankenkasse übernommen werden, konnten nicht gefunden werden.

Michael ging schließlich von Jänner 2006 bis April 2006 zu Mag. B***** in die Therapie und Philipp weiterhin zu Mag. D*****. Da Michael nicht mehr zu Mag. B***** wollte, setzte er die Therapie wieder bei Mag. D***** fort.

Anfang des Jahres 2006 erkundigte sich die Mutter bei Mag. D*****, ob ein Kassenplatz frei wäre. Mag. D***** behauptete, mit der Krankenkasse direkt abzurechnen. In der Folge wurde der Mutter angeboten, den Kostenzuschuss von der Gebietskrankenkasse zu bekommen; die Therapeutin sandte ihr ein entsprechendes Anmeldeformular per E-Mail. Ab Februar 2006 wurde der um den Kostenzuschuss verminderte Betrag verrechnet. Später stellte die Mutter fest, dass Mag. D***** gar nicht in der Liste der Psychotherapeuten Österreichs eingetragen ist und die Behandlung bei der Wiener Gebietskrankenkasse nicht bekannt war.

Die Wiener Gebietskrankenkasse leistet einen Zuschuss für psychotherapeutische Behandlungen durch nichtärztliche Psychotherapeuten nur dann, wenn der Behandler in die Psychotherapeutenliste des „Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen“ als Psychotherapeut eingetragen ist und zur selbständigen Ausübung der Psychotherapie berechtigt ist. Da diese Voraussetzung für Mag. D***** nicht zutraf, bestand keine Möglichkeit der Kostenübernahme durch die Krankenkasse.

Die Mutter suchte weiter nach Spezialisten und fand über den Wiener Verband für Psychotherapie im Oktober 2006 Dr. F*****, die einen Kassenplatz frei hatte. Michael beendete am 24. Oktober 2006 die Therapie bei Mag. D***** und begann am 10. Dezember 2006 die Therapie bei Dr. F*****. Für Philipp fand die Mutter über den Wiener Verband für Psychotherapie eine Therapiestelle bei Mag. S*****, die jedoch keinen Kassenplatz frei hatte, weshalb nur ein Kostenzuschuss möglich war. Philipp beendete am 2. November 2006 die Therapie bei Mag. D***** und begann am 12. Dezember 2006 die Therapie bei Mag. S*****.

Da Ende Juli 2008 bei Michael keine Störung im klinischen Sinne des ICD 10 festgestellt wurde, beendete Dr. F***** die Therapie.

Bei Philipp wurde ein Wechsel der Therapieform von Spieltherapie zu systematischer Therapie empfohlen. Am 23. September 2008 begann er diese Therapie bei Mag. R*****, welcher allerdings auch keinen Krankenkassenplatz hatte, sondern nur mit Krankenkassenzuschuss. Die letzte Therapie fand am 25. Juni 2009 statt. Bei der Diagnostik am 9. September 2009 wurde festgestellt, dass nun auch bei Philipp keine Störung im klinischen Sinne des ICD 10 mehr vorliegt.

Folgende Therapiekosten sind angefallen:

a) Philipp (Zeitraum April 2005 - Juni 2009):

2005: 1.874,80 EUR

2006: 1.732,00 EUR

2007: 1.029,40 EUR

2008: 1.006,00 EUR

2009: 494,20 EUR

Summe 6.136,40 EUR

b) Michael (Zeitraum April 2005 - 2006):

2005: 928,80 EUR

2006: 1.598,16 EUR

Summe 2.526,96 EUR

Der Kostenrefundierungsbeitrag der Gebietskrankenkasse und der Zuschuss von einer privaten Krankenversicherung sind bereits abgezogen.

Die Wiener Gebietskrankenkasse verfügt nach aktuellem Stand zumindest seit dem Jahr 2007 (s ON 69) über eine Reihe von Vertragseinrichtungen, in denen eine Behandlung ohne Kostenbeteiligung in Anspruch genommen werden kann. Dazu kommen zahlreiche niedergelassene Psychotherapeutinnen/-therapeuten die „Kassenplätze“ anbieten können. Auch wenn es dabei Wartezeiten gibt, ist es doch möglich, innerhalb einer angemessenen Zeit einen Therapieplatz zu erhalten. Es ist allerdings nicht mehr feststellbar, wie die Situation in den Jahren 2005 und 2006 war.

Der Durchschnittsbedarf für Philipp von April 2005 bis Juni 2009 (51 Monate) betrug insgesamt 15.220 EUR und für Michael im Zeitraum von April 2005 bis Juli 2008 (40 Monate) 10.982 EUR. Vom Vater wurden in diesen Zeiträumen Unterhaltszahlungen in Höhe von insgesamt 29.466,28 EUR für Philipp und von 19.894,40 EUR für Michael erbracht. Die Differenzbeträge zwischen den Durchschnittsbedarfssätzen und den Unterhaltszahlungen betrugen daher in den genannten Zeiträumen 14.246,28 EUR für Philipp und 8.912,40 EUR für Michael.

Seiner rechtlichen Beurteilung legte das Erstgericht zugrunde, dass die Therapien bei den Kindern dringend notwendig gewesen seien und dass bei Therapeuten mit Kassenvertrag mit längeren Wartezeiten zu rechnen gewesen wäre. Von Beginn an sei der Schwerpunkt auf der raschen Betreuung gelegen, weshalb längere Wartezeiten auf einen Therapieplatz mit Kassenvertrag nicht zumutbar gewesen seien. Die Mutter habe sich - auch beim Wechsel der Therapeuten - ausreichend um Therapieplätze „mit Kassenvertrag“ bemüht. Die Therapiekosten würden daher Sonderbedarf darstellen, dessen Finanzierung im wirtschaftlichen Leistungsvermögen des Vaters Deckung finde.

Das Rekursgericht übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen, verneinte eine sekundäre Mangelhaftigkeit der Verfahrens und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Dass die Mutter bei Beginn der Therapie der Frage der Kostentragung durch die Krankenversicherung kein Augenmerk geschenkt habe, verhindere die Qualifikation der Therapiekosten als Sonderbedarf nicht. Zu dieser Frage wurde der Revisionsrekurs zugelassen.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters aus dem Revisionsrekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Ablehnung der Zuerkennung von Sonderbedarf. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die durch die Mutter vertretenen Kinder haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, um die Konsistenz mit den Vorgaben in der Entscheidung 3 Ob 144/10p herzustellen; er ist auch teilweise berechtigt.

Die Revisionsrekursausführungen lassen sich kurz dahin zusammenfassen, dass die Entscheidung des Rekursgerichts nicht den Vorgaben des Obersten Gerichtshofs im Aufhebungsbeschluss 3 Ob 144/10p entspreche. Nach den Feststellungen wäre es sehr wohl möglich gewesen, innerhalb einer angemessenen Zeit einen Therapieplatz mit Kassenvertrag zu erhalten. Wenn es schon - entgegen dem Willen des Vaters - häufige Therapeutenwechsel gegeben habe, wäre Augenmerk auf die Refundierung durch den Krankenversicherungsträger zu legen gewesen. Wenn sich die Mutter zunächst „keine Gedanken über die Therapiekosten gemacht“ habe, und dies konsequenzenlos bleibe, würde dies dem Ausnahmecharakter der Abgeltung von Sonderbedarf widersprechen. Der Vater habe die aufgelaufenen Therapiekosten jedenfalls nicht verursacht; ihr Auflaufen sei allein dem Verhalten der Mutter zuzurechnen.

Dazu wurde erwogen:

1. Die Vorgaben des Obersten Gerichtshofs in seinem Aufhebungsbeschluss vom 13. Oktober 2010, AZ 3 Ob 140/10p, lauten wie folgt:

„Das Verfahren ist allerdings … noch nicht im Sinne einer Stattgebung der Anträge spruchreif. Soweit nämlich der Sonderbedarf aus öffentlichen Mitteln (insbesondere aus Mitteln von Sozialversicherungsträgern) getragen wird oder zu tragen ist, kann seine Deckung dem Unterhaltspflichtigen nicht aufgetragen werden ... . Dazu hatte der Vater vorgebracht, dass es möglich gewesen wäre, die Therapien auf Kosten der Krankenkasse durchzuführen. Dazu fehlt es an Feststellungen; diese werden im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein, wobei auch auf die Behauptungen der Kinder einzugehen sein wird, die erste Psychotherapeutin habe unrichtig behauptet, einen Kassenvertrag zu haben; es sei nicht leicht, einen zu 100 % auf Kosten der Krankenkasse arbeitenden Therapeuten zu finden; dabei seien auch lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Sollte es zutreffen, dass die erste in Anspruch genommene Therapeutin unrichtige Angaben über einen bestehenden Kassenvertrag gemacht hätte, wäre zu prüfen, ob der Wechsel zu einem anderen Behandler unter Berücksichtigung der Ziele der Behandlung und der Verfügbarkeit anderer Psychotherapeuten mit Kassenvertrag mit der gebotenen Raschheit erfolgte. Wäre auch dies zu bejahen, stünde der Abgeltung des Sonderbedarfs nichts im Wege.“

Maßgeblich ist demnach allein noch, ob es möglich war, einen auf Kosten der Krankenkasse arbeitenden Therapeuten zu finden; dass die Therapiekosten grundsätzlich als ersatzfähiger Sonderbedarf zu qualifizieren sind, wurde bereits entschieden.

2. Nach den Feststellungen hat bei Michael ein Wechsel zu einer Therapeutin mit einem „Kassenplatz“ stattgefunden: Dieser beendete am 24. Oktober 2006 die Therapie bei Mag. D***** und begann am 10. Dezember 2006 die Therapie bei Dr. F*****. Dagegen gab es bei Philipp keine Therapie auf einem Kassenplatz.

Allerdings darf nicht unbeachtet bleiben, dass die Wiener Gebietskrankenkasse über eine Reihe von Vertragseinrichtungen verfügt, in denen eine Behandlung ohne Kostenbeteiligung in Anspruch genommen werden kann; dazu kommen zahlreiche niedergelassene Psychoptherapeutinnen und Psychotherapeuten, die „Kassenplätze“ anbieten können. Auch wenn es dabei Wartezeiten gibt, ist es doch möglich (dies gilt für die Zeit ab 2007), innerhalb einer angemessenen Zeit einen Therapieplatz zu erhalten.

3. Es bleibt den Kindern natürlich unbenommen, einen Therapeuten zu wählen, der keinen Kassenplatz anbieten kann. Im vorliegenden Fall ist - entsprechend den Vorgaben zu 3 Ob 144/10p - zu entscheiden, ob die Kosten dafür aus dem Titel Sonderbedarf vom Vater zu tragen sind.

3.1. Für die Jahre 2005 und 2006 (und davor) ist nicht feststellbar, ob es möglich war, innerhalb angemessener Frist einen Therapieplatz zu erhalten, dessen Kosten von der Krankenkasse getragen werden. Die Kosten der Therapie in den Jahren 2005 und 2006 sind demnach für beide Kinder vom Vater zu tragen. Die nicht auf Kosten der Krankenkasse vorgenommene Therapie wurde bei Michael im Jahr 2006 beendet.

3.2. Anders ist es nach den Feststellungen für die - nur mehr Philipp betreffende - Zeit ab 2007. Ab 2007 wäre innerhalb angemessener Frist möglich gewesen, für Philipp einen Therapieplatz zu erhalten, dessen Kosten von der Krankenkasse getragen werden. Dem Kind ist zuzugestehen, dass zum anderen ein Wechsel des Therapieplatzes nicht von einem Tag auf den anderen zweckmäßig ist; zum anderen mussten (auch) 2007 gewisse Wartezeiten in Kauf genommen werden. Unter diesen Prämissen kann davon ausgegangen werden, dass ein Wechsel zu einem auf Krankenkassekosten arbeitenden Therapeuten etwa ab Mitte des Jahres 2007 möglich gewesen wäre, weshalb es angebracht ist, dass die halben Kosten für 2007 sowie die Kosten, die in den Jahren 2008 und 2009 angefallen sind, vom Vater nicht mehr aus dem Titel des Sonderbedarfs abzudecken sind.

3.3. Als Sonderbedarf sind demnach folgende Beträge zu ersetzen:

a) Philipp (Zeitraum 2005 / 2006 / halbes Jahr 2007):

2005: 1.874,80 EUR

2006: 1.732,00 EUR

2007: 514,70 EUR

Summe 4.121,50 EUR

b) Michael (Zeitraum April 2005 - 2006):

2005: 928,80 EUR

2006: 1.598,16 EUR

Summe 2.526,96 EUR

Nicht zu ersetzen sind betreffend Philipp:

2007: 514,70 EUR

2008: 1.006,00 EUR

2009: 494,20 EUR

Summe 2.104,90 EUR

4. In diesem Sinn sind die Beschlüsse der Vorinstanzen abzuändern.

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