OGH 13Os51/12t

OGH13Os51/12t30.8.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. August 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Temper als Schriftführerin in der Strafsache gegen Hannes G***** und eine Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die von der Generalprokuratur gegen Vorgänge im Verfahren AZ 19 St 216/10v (davor AZ 19 St 92/08f) der Staatsanwaltschaft Graz erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Erste Generalanwältin Dr. Sperker, des Verteidigers Dr. Helmut Horn und der Vertreterin der Privatbeteiligten Dr. Heidemarie Paulitsch, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Es verletzten

1. das Unterbleiben der Zustellung des Antrags der Privatbeteiligten G***** GmbH auf Fortführung des Verfahrens AZ 19 St 216/10v (davor AZ 19 St 92/08f) der Staatsanwaltschaft Graz vom 2. September 2010 an die Verteidiger von Hannes G***** und Andrea W***** § 6 Abs 2 zweiter Satz StPO sowie das Unterbleiben der Zustellung der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu diesem Antrag an diese Verteidiger zur Äußerung § 196 Abs 1 zweiter Satz erster Halbsatz StPO,

2. die Verfügung des Vorsitzenden des Senats von drei Richtern, den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. Mai 2011, GZ 12 Bl 15/10f‑4, an Hannes G***** und Andrea W***** zuzustellen, und das Unterbleiben der Zustellung dieses Beschlusses an deren Verteidiger § 83 Abs 4 erster Satz StPO.

Der bezeichnete Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Graz aufgetragen, Hannes G***** und Andrea W***** durch § 83 Abs 4 erster Satz StPO entsprechende Zustellung des genannten Antrags und der diesbezüglichen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Äußerung binnen angemessener Frist einzuräumen und danach neuerlich über den Antrag zu entscheiden.

Text

Gründe:

In dem bei der Staatsanwaltschaft Graz zufolge einer am 30. April 2008 eingelangten Anzeige der Privatbeteiligten G***** GmbH zu AZ 19 St 216/10v (davor AZ 19 St 92/08f) gegen Hannes G***** und Andrea W***** wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB (begangen durch Bestellen von Reifen in der Zeit von Herbst 2007 bis März 2008) und weiterer strafbarer Handlungen geführten Ermittlungsverfahren gaben beide Beschuldigte mit Schriftsatz vom 9. Mai 2008 bekannt, dass sie die Rechtsanwälte Mag. Helmut Schmid und Dr. Helmut Horn als Verteidiger bevollmächtigt haben (ON 4).

Am 18. August 2010 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Andrea W***** und Hannes G***** wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB („Reifenbestellungen G*****“) gemäß § 190 Z 2 StPO ein (ON 1 S 21 f); gegen Andrea W***** erhob sie unter einem Anklage wegen damit nicht im Zusammenhang stehender Vermögensdelinquenz (vgl ON 1 S 23; siehe auch 12 Os 103/11f).

Mit Antrag vom 2. September (richtig:) 2010 begehrte die Privatbeteiligte G***** GmbH die Fortführung des Verfahrens gegen Hannes G***** und Andrea W***** wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB gemäß § 195 Abs 1 StPO. Sie brachte vor, die Staatsanwaltschaft habe von der Fortführungswerberin bezeichnete und erörterungsbedürftige Verfahrensergebnisse unberücksichtigt gelassen (§ 195 Abs 1 Z 1 StPO).

Unter Anschluss einer Stellungnahme (ON 63) übermittelte die Staatsanwaltschaft am 15. September 2010 dem Landesgericht für Strafsachen Graz gemäß § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO den Ermittlungsakt (ON 1 S 23).

Am 22. September 2010 wurde vom Landesgericht für Strafsachen Graz die Übermittlung einer Gleichschrift der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an die Fortführungswerberin verfügt (ON 1 S 23 verso). Die Zustellung des Antrags auf Fortführung des Verfahrens und der diesbezüglichen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an die Verteidiger zur Äußerung wurde nicht angeordnet.

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Senat von drei Richtern vom 20. Mai 2011, AZ 12 Bl 15/10f (ON 69), wurde die Fortführung des Strafverfahrens gegen Hannes G***** und Andrea W***** wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB gemäß § 195 Abs 1 StPO angeordnet. Es wurde die Zustellung dieser Entscheidung an Hannes G***** und Andrea W***** und nicht an die Verteidiger verfügt.

Rechtliche Beurteilung

Das Unterbleiben der Zustellung des Antrags auf Fortführung des Verfahrens und der diesbezüglichen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an die Verteidiger zur Äußerung sowie die Zustellung des Beschlusses vom 20. Mai 2011 an Hannes G***** und Andrea W***** und nicht an deren Verteidiger stehen mit dem Gesetz ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt ‑ nicht im Einklang:

1. Vor Inkrafttreten des BudgetbegleitG 2009 (BGBl I 2009/52) war das Recht des Beschuldigten, sich zu einem Antrag auf Fortführung zu äußern, in § 196 Abs 3 StPO ausdrücklich normiert. Dass dieses Recht auf rechtliches Gehör durch das BudgetbegleitG geschmälert werden sollte, sagen die Gesetzesmaterialien nicht (vgl EBRV 113 BlgNR 24. GP 37 f). Die Beschuldigten wurden demnach durch das Unterbleiben der Zustellung des Antrags auf Fortführung an ihre Verteidiger (§ 83 Abs 4 StPO) in ihrem Recht nach § 6 Abs 2 zweiter Satz StPO beschränkt und es wurde dadurch das Gesetz in dieser Bestimmung verletzt (vgl Nordmeyer , WK‑StPO § 196 Rz 10).

Gemäß § 196 Abs 1 zweiter Satz StPO hat das Gericht vor seiner Entscheidung über einen Antrag auf Fortführung (auch) dem Beschuldigten Gelegenheit zur Äußerung zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft binnen angemessener Frist einzuräumen.

Zufolge Unterbleibens der Zustellung des Antrags auf Fortführung des Verfahrens und der diesbezüglichen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an die Verteidiger der Beschuldigten (§ 83 Abs 4 StPO) ist der Beschluss vom 20. Mai 2011 in einem rechtlich mangelhaften Verfahren zustande gekommen (vgl Ratz , WK‑StPO § 292 Rz 17).

Da eine nachteilige Wirkung dieser Gesetzesverletzung nicht auszuschließen ist, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).

Bei der neuerlichen Entscheidung wird zu beachten sein, dass die Begründung des Antrags auf Fortführung und die Äußerung des Antragstellers zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft den Umfang der Begründungsbefugnis des Gerichts begrenzen, das somit über den vom Antragsteller gesteckten Rahmen hinaus amtswegig (zum Nachteil der Beschuldigten) nicht tätig werden darf ( Nordmeyer , WK‑StPO § 195 Rz 30). Demgemäß hätte das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 18. April 2011, GZ 12 Hv 128/10g‑80, zur Begründung des in Rede stehenden Beschlusses nicht herangezogen werden dürfen.

2. Gemäß § 83 Abs 4 StPO ist, soweit der Beschuldigte durch einen Verteidiger vertreten wird, abgesehen von der hier nicht relevanten Ausnahme des § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO diesem Verteidiger zuzustellen. Dass das Gesetz zufolge der Verfügung, den Beschluss vom 20. Mai 2011 trotz aktenkundigen Vollmachtsverhältnisses an die Beschuldigten zuzustellen, und durch das Unterbleiben der Zustellung dieses Beschlusses an deren Verteidiger verletzt wurde, war festzustellen (§ 292 fünfter Satz StPO).

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