OGH 10ObS86/12p

OGH10ObS86/12p26.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter MMag. DDr. Hubert Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Februar 2012, GZ 11 Rs 196/11 i‑31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. September 2011, GZ 18 Cgs 168/10d‑27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:010OBS00086.12P.0626.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die am 30. Juni 1955 geborene Klägerin war in den letzten 15 Jahren vor dem 1. 1. 2011 überwiegend als Pflegehelferin tätig. Sie erwarb insgesamt 445 Versicherungsmonate, davon 16 Beitragsmonate der Pflichtversicherung-Teilversicherung nach dem APG, 296 Beitragsmonate der Pflichtversicherung als unselbständig Erwerbstätige und 133 Monate an Ersatzzeiten.

Die Klägerin kann noch leichte Arbeiten erbringen; Hebe- und Trageleistungen dürfen nur vereinzelt nötig sein und jeweils 5 kg nicht übersteigen. Die Arbeiten können im Sitzen, Gehen und Stehen verrichtet werden. Nach einer Arbeitsdauer von einer halben Stunde ist ein Haltungswechsel für die Dauer von fünf Minuten durchzuführen, hiefür müssen die Arbeiten nicht unterbrochen werden. Durchschnittlicher Zeitdruck ist zumutbar. Die Arbeitszeit ist mit 4 Stunden täglich zu begrenzen; zusätzliche Arbeitspausen sind nicht erforderlich. Es bestehen noch zahlreiche weitere ‑ im Einzelnen näher festgestellte ‑ Leistungseinschränkungen.

Der beschriebene Gesundheitszustand besteht jedenfalls seit September 2010. Besserungsfähigkeit ist in Bezug auf den notwendigen Haltungswechsel gegeben. Mit einer kalkülsrelevanten Besserung des Gesundheitszustands ist frühestens Ende Jänner 2012 zu rechnen.

Die Klägerin kann aufgrund ihres medizinischen Leistungskalküls ihren bisherigen Beruf als Pflegehelferin nicht mehr ausüben. Es sind ihr aber noch die Tätigkeiten einer Portierin, Rezeptionistin oder Wächterin, einer ungelernten Fertigungsprüferin, einer Kontrollorin sowie einer Museumsaufseherin zumutbar. Diese Tätigkeiten sind in einer ausreichenden Anzahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass die Klägerin am regionalen Arbeitsmarkt innerhalb eines Jahres eine derartige Stelle finden wird.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 8. 6. 2010 den Antrag der Klägerin vom 7. 4. 2010 auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab.

In der Tagsatzung vom 20. 5. 2011 schränkte die Klägerin das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. 1. 2011 ein und stützte es nunmehr ausschließlich darauf, dass ihr die Berufsunfähigkeitspension in Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b iVm § 273 Abs 2 ASVG zustehe.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren Folge und erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin die Berufsunfähigkeitspension vom 1. 1. 2011 bis 31. 1. 2012 zu gewähren und bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung von 300 EUR monatlich zu erbringen. Rechtlich ging es davon aus, dass die Berufsunfähigkeit der Klägerin, die weder eine kaufmännische noch eine höhere nicht kaufmännische Tätigkeit iSd § 1 AngG ausgeübt habe, nach §§ 273 Abs 2 iVm 255 Abs 3a und 3b ASVG zu beurteilen sei. Die Klägerin genieße keinen Berufsschutz; sie erfülle sämtliche in § 255 Abs 3a ASVG aufgezählten Voraussetzungen, so auch jene nach Z 2, weil sie mindestens zwölf Monate vor dem Stichtag (dem 1. 1. 2011) iSd § 12 AlVG arbeitslos gemeldet gewesen sei. Für die Erfüllung dieser Anspruchsvoraussetzung komme es lediglich darauf an, dass eine Arbeitslosmeldung für ein Jahr vor dem Stichtag nachgewiesen sei. Zeiten des Bezugs eines Pensionsvorschusses gemäß § 23 AlVG würden nicht schaden. Die Voraussetzungen des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG seien ebenfalls erfüllt, weil der Klägerin nur mehr leichte Arbeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck zumutbar wären und nach 30 Minuten ein Haltungswechsel von etwa fünf Minuten erforderlich sei. Mit ihrem medizinischen Leistungskalkül seien nur mehr einfache Tätigkeiten, wie etwa die Tätigkeit einer Portierin, Rezeptionistin, Wächterin, (Museums‑)Aufseherin, einer ungelernten Fertigungsprüferin und Kontrollorin vereinbar, welche allesamt ein sehr geringes Anforderungsprofil aufwiesen. Da eine Besserung nicht auszuschließen sei, sei die Gewährung der Berufunfähigkeitspension bis Ende Jänner 2012 zu befristen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Rechtlich ging das Berufungsgericht davon aus, noch strittiges Kriterium nach § 255 Abs 3a ASVG sei allein die Frage, ob es genüge, dass die versicherte Person in den letzten 12 Monaten vor dem Stichtag arbeitslos iSd § 12 AlVG war oder ob sie als „arbeitssuchend“ gemeldet, somit der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden sein müsse, um als invalid iSd § 255 Abs 3a ASVG zu gelten. Wenngleich sich zu den Zeiträumen der Arbeitslosmeldung im Ersturteil keine Feststellungen fänden, sei das entsprechende Berufungsvorbringen zu Grunde zu legen, nach dem die Klägerin vom 1. 10. 2009 bis 22. 1. 2010 arbeitslos gemeldet war, vom 23. 1. 2010 bis 5. 4. 2010 Krankengeld bezogen hat, vom 6. 4. 2010 bis 30. 4. 2010 wiederum arbeitslos gemeldet war, vom 1. 5. 2010 bis 25. 9. 2010 Pensionsvorschuss und vom 26. 9. 2010 bis 14. 10. 2010 Krankengeld bezogen und daran anschließend vom 15. 10. 2010 bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (dem 30. 8. 2011) wieder Pensionsvorschuss erhalten hat. Weder der Wortlaut des Gesetzes noch die aus den Gesetzesmaterialien erkennbare Absicht des Gesetzgebers würden hinreichende Anhaltspunkte dafür bieten, dass die versicherte Person in den letzten zwölf Monaten vor dem Stichtag als „arbeitssuchend“ gemeldet gewesen sein müsste. Auch Zeiten des Bezugs eines Pensionsvorschusses nach § 23 AlVG als Variante des Arbeitslosengeldes könnten daher die Kriterien des § 255 Abs 3a Z 2 ASVG erfüllen. Eine Pensionsvorschussleistung setze Arbeitslosigkeit iSd § 12 AlVG gerade voraus. Auch der Bezug von Krankengeld schade nicht. Er führe nur zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, schließe Arbeitslosigkeit aber nicht aus.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zu der über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsfrage fehle, ob und unter welchen Voraussetzungen Zeiten des Bezugs von Pensionsvorschuss und/oder Krankengeld als Zeiträume gemeldeter Arbeitslosigkeit iSd § 255 Abs 3a Z 2 ASVG zu qualifizieren seien.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Auslegung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG durch den Obersten Gerichtshof abgewichen ist, sie ist im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt schließt sich in ihrer Revision in Bezug auf den Pensionsvorschuss der vom Berufungsgericht vertretenen Rechtsansicht nunmehr an und führt aus, es könne kein Zweifel daran bestehen, dass ein Pensionsvorschussbezieher während der gesamten laufenden Bezugsdauer schon von Gesetzes wegen als seit der Antragstellung auf Gewährung von Pensionsvorschuss beim AMS gemeldeter Arbeitsloser iSd § 12 AlVG anzusehen sei.

Dennoch stehe die Entscheidung nicht im Einklang mit der zur „Härtefallregelung“ ergangenen Rechtsprechung. Nach dieser sei entscheidend, dass eine versicherte Person nur mehr vorwiegend in sitzender Haltung auszuübende Tätigkeiten und sonst keine Verweisungstätigkeiten mehr verrichten könne. Seien Tätigkeiten im Gehen oder Stehen vorhanden, die trotz der gegebenen Einschränkungen noch möglich seien, seien die Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG nicht erfüllt. Nach den Feststellungen sei die Klägerin aber nicht auf vorwiegend sitzende Tätigkeiten beschränkt, sodass das Klagebegehren abzuweisen sei.

Dazu ist auszuführen:

1. Die beklagte Partei lässt im Revisionsverfahren die zutreffende Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin erfülle die Anspruchsvoraussetzung nach § 255 Abs 3a Z 2 ASVG (siehe dazu 10 ObS 89/12d) unbekämpft, sodass darauf nicht weiter einzugehen ist.

Wie die Revisionswerberin aufzeigt, erweist sich die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen als unumgänglich:

2.1. War die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd Abs 1 und 2 des § 255 ASVG tätig, so gilt sie dann als invalid, wenn sie nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer den physischen und psychischen Beeinträchtigungen entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann (§ 255 Abs 3a Z 4 ASVG). Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (§ 255 Abs 3b ASVG).

2.2. Nach ständiger Rechtsprechung umschreibt die Legaldefinition der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG nicht das für eine Anwendung der Härtefallregelung noch zulässige medizinische (Rest-)Leistungskalkül des Versicherten, sondern das Anforderungsprofil für jene Tätigkeiten unter allen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen und in diesem Fall nicht als mögliche und zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist daher nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Restleistungskalküls der versicherten Person, sondern ‑ wie der Gesetzeswortlaut („Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“) und insbesondere die Gesetzesmaterialien zeigen ‑ die vom Gesetzgeber im Hinblick auf das eingeschränkte Leistungskalkül der versicherten Person vorgesehene Einschränkung der Verweisbarkeit der versicherten Person auf dem Arbeitsmarkt. Es wird ein bestimmtes Profil von Tätigkeiten umschrieben, die der Versicherte zwar noch ausüben könnte, auf die er aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verwiesen werden kann (RIS-Justiz RS0127382).

2.3. Daraus ergibt sich, dass die Sache noch nicht spruchreif ist. Die Ansicht der Vorinstanzen, die der Klägerin noch möglichen Verweisungstätigkeiten entsprächen den Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG, stimmt mit dem dargelegten Verständnis dieser Bestimmung nicht überein. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob der Klägerin nur noch die in § 255 Abs 3a Z 4 ASVG genannten, in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten („vorwiegend in sitzender Haltung“) und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten zur Verfügung stehen. Sollten etwa ausreichend leichte, im Gehen oder Stehen auszuübende Tätigkeiten vorhanden sein, die der Klägerin trotz ihrer weiteren Einschränkungen möglich sind, wären die Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG nicht erfüllt. Erst wenn feststehen sollte, dass nur die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen und darüber hinaus keine weiteren Verweisungstätigkeiten bestehen, wäre das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Härtefallregelung zu bejahen, wenn weiters zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung vom Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es aber ergänzender Feststellungen zum Anforderungsprofil der der Klägerin noch möglichen Verweisungstätigkeiten.

Aus diesen Gründen war mit einer Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen vorzugehen.

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