OGH 7Ob242/11f

OGH7Ob242/11f19.4.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr.

Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI H***** B*****, vertreten durch Themmer, Toth & Partner Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei A*****AG, *****, vertreten durch Paar & Zwanzger Rechtsanwälte‑Partnerschaft in Wien, wegen Feststellung, über die außerordentliche Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. Oktober 2011, GZ 4 R 317/10g‑29, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 14. September 2010, GZ 12 Cg 65/10v‑25, infolge Berufung des Klägers bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

B e g r ü n d u n g :

Die Ehefrau des Klägers schloss bei der Beklagten mit Versicherungsbeginn 25. 3. 2006 eine Rechtsschutzversicherung ab. Der Kläger ist Mitversicherter. Am 26. 10. 2006 wurde der Versicherungsvertrag um den Baustein „Vertraglicher Rechtsschutz“ erweitert. Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2003) zugrunde, die folgende, für den vorliegenden Rechtsstreit maßgebliche, Bestimmungen enthalten:

Artikel 2

Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?

1. Bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gemäß Artikel 17.2.1.1., Artikel 18.2.1., Artikel 21.2.1. und Artikel 25.2.3. gilt als Versicherungsfall das dem Anspruch zugrundeliegende Schadenereignis. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalls gilt der Eintritt dieses Schadenereignisses.

[…]

3. In den übrigen Fällen gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Bei mehreren Verstößen ist der erste, adäquat ursächliche Verstoß maßgeblich, wobei Verstöße, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn zurückliegen, für die Feststellung des Versicherungsfalls außer Betracht bleiben. […].

Der Kläger erwarb nach Beratung durch einen Finanzdienstleister über die C***** AG Aktien der I*****‑Gruppe, und zwar am 19. 5. 2006 um 50.000 EUR, am 13. 11. 2006 um 35.175 EUR, am 8. 1. 2007 um 73.000 EUR und am 12. 1. 2007 um 50.000 EUR. Der Kurs dieser Aktien, der zum Zeitpunkt des ersten Ankaufs 8,75 betrug und angeblich durch Kursstützungsmaßnahmen vorerst künstlich hochgehalten wurde, sank bis Mai 2009 auf 1,58 ab.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihm auf Grund und im Umfang des Rechtsschutzversicherungsvertrags

a) für das vom Kläger vor dem Handelsgericht Wien zu GZ 21 Cg 59/09a gegen die C***** AG (Streitwert 55.971,11 EUR) anhängig gemachte Gerichtsverfahren,

b) für die aus den Aktienankäufen vom 13. 11. 2006 in Höhe von 35.175 EUR, vom 8. 1. 2007 in Höhe von 73.000 EUR und vom 12. 1. 2007 in Höhe von 35.175 EUR erlittenen und gegenüber der C***** AG geltend zu machenden Nachteile Kostendeckung zu gewähren.

Im Revisionsverfahren bildet die in erster und zweiter Instanz relevierte Frage einer (iSd Art 9 ARB 2003) rechtzeitigen Deckungsablehnung durch die Beklagte keinen Streitpunkt mehr. Strittig ist im Wesentlichen nur noch die Frage der Vorvertraglichkeit (ob die vom Kläger geltend gemachten Versicherungsfälle vor oder nach Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten sind). Der Kläger brachte dazu vor, die C***** AG und die hinter dieser stehende I*****‑Gruppe habe den Kauf der Aktien als solide Form der Veranlagung beworben. Tatsächlich sei der Kurs der Aktien durch massiven Ankauf der eigenen Aktien künstlich hochgehalten worden. Erst im Jahr 2008 sei dem Kläger bekannt geworden, dass die massiven Kursverluste der I*****‑Aktien auf Verstöße (auch) der C***** AG gegen das Bankwesengesetz zurückzuführen gewesen seien. Zur Vermeidung von Verjährungsfolgen habe der Kläger zu 21 Cg 59/09a des Handelsgerichts Wien am 12. 5. 2009 Klage gegen die C***** AG auf Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts vom 19. 5. 2006 und Zahlung eines Betrags von 55.967,11 EUR Zug‑um‑Zug gegen Rückstellung der an diesem Tag gekauften Aktien eingebracht. Die Ansprüche würden auf die Verletzung vertraglicher Verpflichtungen, subsidiär auch auf allgemeinen Schadenersatz gestützt. Weitere Klagen hinsichtlich der Aktienkäufe des Klägers bei der C***** AG vom November 2006 und vom Jänner 2007 seien in Vorbereitung.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung. Es bestehe kein Versicherungsschutz. Die vom Kläger behaupteten Ansprüche gegen die C***** AG fielen in den Risikobereich „Allgemeiner Vertragsrechtsschutz“. Versicherungsfall sei somit der erste tatsächliche oder behauptete Verstoß gegen Rechtspflichten und Vorschriften. Lägen mehrere gleichartige Verstöße vor, sei der erste ursächliche adäquate Verstoß maßgeblich. Ursächlich sei laut Angaben des Klägers die Anlageentscheidung im Mai 2006 gewesen. Die Folgekäufe seien solche im Sinne des Art 2.3 der AHB 2003 und unterlägen ebenfalls nicht der Deckung. Weil die einzelnen Aktienkäufe alle vor dem unter Berücksichtigung der dreimonatigen Wartefrist (Art 22.4 der ARB 2003) für den Beginn des Versicherungsschutzes maßgeblichen Zeitpunkt 26. 1. 2007 erfolgt seien, wäre Vorvertraglichkeit auch dann gegeben, wenn man die einzelnen Ankäufe jeweils als schadenbildendes Ereignis ansähe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Kostendeckung der Schadenersatzforderungen des Klägers stelle einen Sonderfall des vertraglichen Rechtsschutzes dar und unterliege nicht dem allgemeinen Schadenersatzrechtsschutz. Es stelle sich die Frage, ob der erste Ankauf von I*****‑Aktien bereits als das primär schadenstiftende Ereignis anzusehen sei. Bei Kaufentschluss seien die allenfalls den Schaden bedingenden Tätigkeiten des Beraters bereits vorgelegen. Insbesondere sei der Kläger über Risiken nicht aufgeklärt worden, weshalb ein ‑ wenn auch latenter und schleichender ‑ Schaden bereits zum damaligen Zeitpunkt eingetreten gewesen sei. Hinsichtlich des gewünschten Deckungsrahmens sei somit Vorvertraglichkeit des schadenstiftenden Ereignisses gegeben. Die späteren Aktienkäufe seien zwar zeitlich innerhalb des Versicherungsrahmens erfolgt, diesen lägen jedoch faktisch keine anderen Motive zugrunde als beim ersten Ankauf im Mai 2006. Weiters basierten die gegenüber der C***** AG erhobenen Vorwürfe auf gleichsam identen Sachverhalten wie der geschilderte Erstankauf, weshalb die Verstoßtheorie zur Anwendung komme.

Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung der ersten Instanz. Für den Eintritt des Versicherungsfalls in der Rechtsschutzversicherung bedürfe es nach ständiger Rechtsprechung eines gesetz‑ oder vertragswidrigen Verhaltens eines Beteiligten, das als solches nicht sofort und ohne weiteres nach außen zu dringen brauche. Ein Verstoß sei ein tatsächlicher, objektiv feststellbarer Vorgang, der immer dann, wenn er wirklich vorliege oder ernsthaft behauptet werde, den Keim eines Rechtskonflikts in sich trage, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen könne. In der Entscheidung 7 Ob 144/10t habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass bereits mit Abschluss des jeweiligen Vertrags ‑ hier mit dem Kauf von Wertpapieren ‑ der Keim für spätere Auseinandersetzungen gelegt sei. Die Bestimmung des Zeitpunkts des Versicherungsfalls im Rahmen der Rechtsschutzversicherung solle verhindern, dass die Rechtsschutzversicherung mit Kosten solcher Rechtsstreitigkeiten belastet werde, die bei Abschluss des Versicherungsvertrags bereits „die erste Stufe der konkreten Gefahrenverwirklichung“ erreicht hätten. Im vorliegenden Fall sei der erste Ankauf von Aktien vor der Erweiterung des Versicherungsschutzes auf vertragliche Ansprüche erfolgt. Es würde dem Kläger daher die Deckung bereits eingetretener Risken zugebilligt werden. Die höchstgerichtliche Rechtsprechung stelle regelmäßig weiters darauf ab, ob mehrere Versicherungsfälle im Sinn des Art 2.3. ARB auf einem Geschehensablauf beruhten, der nach der Verkehrsauffassung als ein einheitlicher Lebensvorgang aufzufassen sei. Hier sei die Entscheidung für den Aktienankauf bereits vor dem Ersterwerb durch den Kläger am 19. 5. 2006 erfolgt. Den im Anschluss getätigten weiteren Ankäufen im November 2006 sowie im Jänner 2007 sei derselbe Kaufentschluss zugrunde gelegen, weshalb es sich für sämtliche Ankäufe um ein einheitlich zu betrachtendes Delikt handle. Die erste Pflichtverletzung durch die C***** AG sei kausal und adäquat ursächlich auch für die weiteren Ankäufe gewesen. Der Einwand der Vorvertraglichkeit sei somit erfolgreich und der Berufung des Klägers daher ein Erfolg zu versagen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige; weiters, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vorliege. Der Versicherungsfall und damit die Beurteilung der Deckungspflicht richte sich nach dem vom Kläger geltend zu machenden Anspruch und sei insofern eine Frage des Einzelfalls.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, der der Ansicht des Berufungsgerichts, die Revision sei mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig, widerspricht und beantragt, die angefochtene Entscheidung wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung das außerordentliche Rechtsmittel ihres Prozessgegners entweder als unzulässig zurückzuweisen oder ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers ist, weil die Vorinstanzen die Rechtslage verkannt haben, zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Obwohl der Kläger weiterhin auch Art 2.1. ARB 2003 erwähnt, tritt er der zutreffenden Ansicht der Vorinstanzen nicht mehr entgegen, dass die Ansprüche, die er gegenüber der C***** AG erhebt, unter den „Vertraglichen Rechtsschutz“ fallen und dass daher für den Eintritt des Versicherungsfalls Art 2.3. ARB maßgeblich ist. Nach dieser Bestimmung (gleichlautende Klauseln finden sich auch in den ARB 1988, 1994, 2005 und 2007) liegt der Versicherungsfall in der Rechtsschutzversicherung vor, wenn einer der Beteiligten begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Es bedarf daher eines gesetzwidrigen oder vertragswidrigen Verhaltens eines Beteiligten, das als solches nicht sofort oder nicht ohne weiteres nach außen zu dringen braucht. Ein Verstoß ist ein tatsächlich objektiv feststellbarer Vorgang, der immer dann, wenn er wirklich vorliegt oder ernsthaft behauptet wird, den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen kann. Damit beginnt sich die vom Rechtsschutzversicherer übernommene Gefahr konkret zu verwirklichen. Es kommt nicht darauf an, ob der Handelnde sich des Verstoßes bewusst oder infolge von Fahrlässigkeit oder auch unverschuldet nicht bewusst war, es soll sich um einen möglichst eindeutig bestimmbaren Vorgang handeln, der in seiner konfliktauslösenden Bedeutung für alle Beteiligten, wenn auch erst nachträglich, erkennbar ist. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beteiligten von dem Verstoß Kenntnis erlangten, noch darauf, wann auf Grund des Verstoßes Ansprüche geltend gemacht oder abgewehrt werden (RIS‑Justiz RS0114001).

Bei mehreren (gleichartigen) Verstößen ist auf den ersten abzustellen (RIS‑Justiz RS0114209). Ist kein einheitliches Verstoßverhalten des Schädigers erkennbar, handelt es sich bei einzelnen schädigenden Verhalten jeweils um einen rechtlich selbständigen neuen Verstoß. Die Beweislast für den Eintritt des Versicherungsfalls im versicherten Zeitraum in einem solchen Fall trifft den Versicherungsnehmer (RIS‑Justiz RS0111811). War nach der Sachlage schon beim ersten Verstoß mit weiteren gleichartigen Verstößen zu rechnen, liegen in der Regel nicht mehrere selbständige Verstöße, sondern es liegt ein einheitlicher Verstoß im Rechtssinn vor. Dies kann sowohl bei vorsätzlichen Verstößen der Fall sein, bei denen der Wille des Handelnden von vornherein den Gesamterfolg umfasst und auf dessen „stoßweise Verwirklichung“ durch mehrere gleichartige Einzelhandlungen gerichtet ist, wie auch bei Fällen gleichartiger fahrlässiger Verstöße, die unter wiederholter Außerachtlassung derselben Pflichtenlage begangen werden (RIS‑Justiz RS0111811).

Das Berufungsgericht hat diese in ständiger Rechtsprechung vertretenen Grundsätze zwar (zum Teil) richtig wiedergegeben, aber nicht entsprechend beachtet: Als tatsächlicher oder behaupteter Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften im Sinn des Art 2.3. ARB kommt im vorliegenden Fall nur ein Fehlverhalten der C***** AG, gegen die der Kläger Klage erhoben hat und weiter vorgehen will, in Betracht. Der Versicherungsfall ist in dem Zeitpunkt eingetreten, in dem die genannte AG oder, wovon offenbar das Erstgericht ausgeht, ein dieser zuzurechnender Berater des Klägers begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtsvorschriften oder Rechtspflichten zum Nachteil des Klägers zu verstoßen. Dies wurde von den Vorinstanzen mit den Parteien weder entsprechend erörtert, noch wurden ‑ mit Ausnahme der unklaren, im Konjunktiv gehaltenen Feststellung des Ersturteils betreffend (wohl illegale) Kursstützungsmaßnahmen ‑ dazu Feststellungen getroffen. Ebenso fehlen Feststellungen, auf Grund derer die von den Vorinstanzen jeweils bejahte Frage, ob ein einheitlicher Verstoß vorlag, beurteilt werden könnte.

In der Entscheidung 7 Ob 144/10t, auf die sich das Berufungsgericht berief, traf ein anderer Versicherer mit dem später rechtsschutzversicherten Kläger im Rahmen eines Lebensversicherungsvertrags Vereinbarungen, die nach dem Vorbringen des Klägers infolge Intransparenz unwirksam sein sollten. Somit war schon mit dem Abschluss der Lebensversicherung der Keim für spätere Auseinandersetzungen gelegt. Der Oberste Gerichtshof kam daher zum Ergebnis, dass durch den späteren Abschluss des Rechtsschutzversicherungsvertrags ein Risiko gedeckt wurde, das zuvor bereits eingetreten war. Mit diesem Rechtsfall ist der vorliegende in keiner Weise vergleichbar.

Vorvertraglichkeit würde unter Berücksichtigung der 3‑monatigen Wartefrist des Art 22.4. ARB 2003, auf die sich die Beklagte ausdrücklich berufen hat, im vorliegenden Fall jedenfalls voraussetzen, dass ein Fehlverhalten, auf das sich die Ansprüche des Klägers gegen die C***** AG gründen ließen, vor dem 26. 1. 2007 begonnen hat.

Das Verfahren ist demnach im aufgezeigten Sinn noch ergänzungsbedürftig. Die Urteile der Vorinstanzen sind daher aufzuheben, und es ist dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach entsprechender Verfahrensergänzung aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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