OGH 14Os9/12y

OGH14Os9/12y16.2.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Februar 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Potmesil als Schriftführer in der Strafsache gegen Nnamdi Aku***** und eine weitere Angeklagte wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, § 15 StGB, AZ 044 Hv 75/09h des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerden der Angeklagten Nnamdi Aku***** und Uche Aka***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 23. Dezember 2011, AZ 17 Bs 386/11f, 17 Bs 387/11b (ON 338 der Hv-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Grundrechtsbeschwerden werden abgewiesen.

Aus deren Anlass wird festgestellt, dass Nnamdi Aku***** und Uche Aka***** in ihrem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurden.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 23. Dezember 2011 (ON 338) gab das Oberlandesgericht Wien den Beschwerden des Nnamdi Aku***** und der Uche Aka***** gegen die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. November 2011 (ON 330 und 331), mit denen die (über den Angeklagten Nnamdi Aku***** am 28. Juni 2009 [ON 82] und über die Angeklagte Uche Aka***** am 25. Juli 2009 [ON 35 in ON 95]) verhängten und wiederholt prolongierten Untersuchungshaften aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit a (hinsichtlich Nnamdi Aku***** auch lit b) StPO fortgesetzt worden waren, nicht Folge und ordnete jeweils die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den vom Erstgericht genannten Haftgründen an. Zugleich stellte das Oberlandesgericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest und trug dem Landesgericht für Strafsachen Wien auf, unverzüglich die Hauptverhandlung fortzusetzen (BS 12).

Das Beschwerdegericht bejahte den dringenden Tatverdacht, Nnamdi Aku***** und Uche Aka***** hätten sich von Oktober 2007 bis März 2008 in einverständlichem Zusammenwirken an der den bestehenden Vorschriften zuwider erfolgten Ausfuhr von - im angefochtenen Beschluss im einzeln bezeichneten - Suchtgiftquanten in einer insgesamt zumindest das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge aus den Niederlanden und deren anschließenden Einfuhr nach Österreich beteiligt, indem sie an der Organisation der im Beschluss genannten Schmuggelfahrten mitwirkten.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von Nnamdi Aku***** und Uche Aka***** erhobenen, im Wesentlichen inhaltsgleich ausgeführten Grundrechtsbeschwerden schlagen fehl.

Soweit die Beschwerden die Dringlichkeit des Tatverdachts kritisieren, scheitern sie an der Unterlassung einer entsprechenden Bekämpfung in den Beschwerden gegen die Beschlüsse des Vorsitzenden des Schöffengerichts (ON 327 und 328) und demgemäß an der Erschöpfung des Instanzenzugs (§ 1 Abs 1 GRBG; Kier in WK2 GRBG § 1 Rz 41 mwN).

Der weitere Einwand, die Haftgründe seien nicht „unter dem Aspekt des § 173a StPO“ geprüft worden, geht daran vorbei, dass es sich beim elektronisch überwachten Hausarrest nur um eine Modalität der Untersuchungshaft, nicht etwa um ein diese substituierendes gelinderes Mittel handelt und er daher vom Schutzbereich des Art 5 MRK nicht umfasst ist (RIS-Justiz RS0126401).

Die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren prüft der Oberste Gerichtshof dahin, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durften, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als unvertretbar („willkürlich“) angesehen werden müsste. § 173 Abs 2 StPO kennt somit als Vergleichsbasis des Willkürverbots nur die in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen, weshalb auch ein bei dieser Prognose erfolgtes Unterbleiben der Erwägung einzelner aus Sicht eines Beschwerdeführers allenfalls erörterungsbedürftiger Umstände nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden kann (RIS-Justiz RS0117806).

Die vom Oberlandesgericht für die Annahme der Fluchtgefahr ins Treffen geführten Tatsachen (BS 10), nämlich die mangelnde Integration der - jeweils ausländische Staatsbürgerschaften besitzenden - Beschwerdeführer in Österreich und in den Niederlanden sowie die aufgrund der „großen Menge von Suchtgift“ (BS 12) drohende hohe Freiheitsstrafe lassen einen formal einwandfreien Schluss auf die nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO begründete Gefahr zu, die Angeklagten werden auf freiem Fuß flüchten oder sich verborgen halten. Dem setzen die Rechtsmittelwerber durch die Hinweise auf die Möglichkeit, bei einer Bekannten Unterkunft nehmen zu können und den - im Hinblick auf den angestrebten Freispruch - fehlenden Fluchtanreiz keine substantiellen Argumente entgegen und zeigen solcherart keine Willkür der bekämpften Prognoseentscheidung auf. Gleiches gilt für das von Uche Aka***** erstattete Vorbringen, als „EU-Bürgerin“ in Österreich arbeiten zu können.

Eine Erörterung der Einwände gegen die vom Oberlandesgericht ebenso als bestehend angesehene Tatbegehungsgefahr erübrigt sich, weil bei anzunehmendem dringenden Tatverdacht bereits ein Haftgrund die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft rechtfertigt (RIS-Justiz RS0061196).

Soweit die Grundrechtsbeschwerden - in Wiederholung ihres Vorbringens in den Haftbeschwerden - mit Blick auf die vom Oberlandesgericht aktuell festgestellte Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 1, 177 Abs 1 StPO) den Anspruch auf sofortige Enthaftung der Angeklagten ableiten, übersehen sie, dass dieser nach § 9 Abs 2 StPO, aber auch Art 5 Abs 3 zweiter Satz MRK und Art 5 Abs 1 PersFrG, nur bei einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer gegeben ist (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 176 Rz 15, § 177 Rz 2 ff). Auf Basis der (unzulässig kritisierten) Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts zur dringenden Verdachtslage steht die im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung rund zweieinhalb Jahre andauernde Haft aber weder zur Bedeutung der Sache noch der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 173 Abs 1 StPO).

Weil ein Fortwirken der - neben einzelnen Verfahrensstillständen vorrangig in der verzögerten „Erstellung eines Schallgutachtens“ erachteten (BS 11) - Säumigkeit mit der (im Übrigen bereits einen Tag vor der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts nachgeholten) Verfahrenshandlung (ON 335) nicht erkennbar war, stand dem Oberlandesgericht mehr als die Feststellung der Verletzung des § 177 Abs 1 StPO nicht zu Gebote.

Die Grundrechtsbeschwerden waren daher ohne Kostenzuspruch (Kier in WK2 GRBG §§ 8, 9 Rz 1) abzuweisen.

Aus Anlass der Grundrechtsbeschwerde war jedoch in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur zu Gunsten der Angeklagten gemäß § 10 GRBG iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall, § 281 Z 9 lit a StPO der Umstand aufzugreifen, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts (in subjektiver Hinsicht) keine Sachverhaltsannahmen zum dringenden Tatverdacht enthält, die eine rechtliche Beurteilung, ob durch die als sehr wahrscheinlich angenommenen Tatsachen das Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, § 15 StGB begründet wird, ermöglichen würden. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat der Fortsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts die erstinstanzliche Entscheidung nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen und solcherart eine neue - reformatorische - Entscheidung darzustellen (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO; RIS-Justiz RS0116421, RS0120817). Nach § 174 Abs 3 Z 4 StPO (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO) hat jede solche Entscheidung „die bestimmten Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht“ für das Oberlandesgericht ergibt, zu enthalten. Das bedeutet, dass mit Bestimmtheit anzugeben ist, welcher - in Hinsicht auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit als begründet anzusehenden strafbaren Handlungen (rechtliche Kategorien; vgl § 260 Abs 1 Z 2 StPO) rechtlich entscheidend beurteilte - Sachverhalt angenommen wurde (Feststellungsebene) und klarzustellen ist, auf welchen ganz bestimmten Tatumständen (Beweisergebnissen, sogenannten erheblichen Tatsachen) diese Sachverhaltsannahmen über die entscheidenden Tatsachen beruhen (Begründungsebene; RIS-Justiz RS0120817). Geschieht dies nicht, liegt eine Grundrechtsverletzung vor. Insoweit unterscheidet sich die Begründungspflicht für Haftbeschlüsse nicht von der für ein Strafurteil (vgl statt aller: 13 Os 81/07x, EvBl 2007/137, 742 mwN). Vorliegend lässt der angefochtene Beschluss jegliche Ausführungen zur subjektiven Tatseite vermissen, womit er in Betreff der Sachverhaltsannahmen für die Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts in einer das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzenden Weise unzureichend geblieben ist.

Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordert damit eine unverzügliche Klärung der Haftvoraussetzungen im Rahmen einer Haftverhandlung (§ 7 Abs 2 GRBG). Mit Blick auf die Verfahrensergebnisse, die in die Richtung des vom Beschwerdegericht beschriebenen dringenden Tatverdachts weisen, war jedoch die Aufhebung des Haftfortsetzungsbeschlusses nicht erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG; Ratz, ÖJZ 2005, 415 [419]; Reiter, ÖJZ 2007, 391 [403]).

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