OGH 10ObS155/11h

OGH10ObS155/11h14.2.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger, und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, vertreten durch Arnold & Arnold, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen, vom 28. September 2011, GZ 25 Rs 66/11h-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 9. Juni 2011, GZ 16 Cgs 140/10d-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 10. 5. 2010 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene und auf die Gewährung der abgelehnten Leistung ab 1. 2. 2010 gerichtete Klage ab. Es stellte im Wesentlichen fest, dass die am 3. 5. 1973 geborene Klägerin am 31. 8. 1995 in Deutschland die dreijährige Berufsausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen und eine Zusatzausbildung zur Operationsschwester absolviert hat. Die Klägerin war während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 2. 2010) 95 Beitragsmonate als Krankenschwester in Deutschland und zuletzt 19 Beitragsmonate in Österreich in einem Pflege- und Altenheim als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester tätig.

Die Klägerin kann noch leichte und bis zu einem Drittel mittelschwere körperliche Arbeiten sowie leichte und mittelschwere geistige Arbeiten mit zeitweise besonderem Zeitdruck, Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen ohne fixe zeitliche Zuordnung, Arbeiten in geschlossenen Räumen und bis zur Hälfte im Freien unter nötigem Kälte- und Nässeschutz sowie Schutz vor kalter Zugluft, vollzeitig mit den üblichen Unterbrechungen verrichten. Zu vermeiden sind häufiges Heben von Lasten über 12 kg und das Tragen von Lasten über 10 kg mit beiden Händen. Die Unterstützung bei der Mobilisation von Patienten, also bei deren Aufrichten aus einer liegenden oder sitzenden Position sowie die Durchführung von Erste-Hilfe-Maßnahmen (Lagerung, Reanimation, Bedienung eines Defibrillators), wie sie unter anderem die Diplomkrankenschwestern in Ambulatorien zu tätigen haben, sind der Klägerin jedoch möglich.

Diplomierte Krankenschwestern haben mittelschwere und schwere Lasten bei der Lagerung der Patienten sowie beim Heben von Patienten zu bewältigen, wobei auch dann, wenn dies zu zweit durchgeführt wird, Lasten zu heben und zu tragen sind, die die Klägerin nicht mehr bewältigen kann. Bei der Betreuung der Patienten sind Aufgaben mit hoher Verantwortung (zB richtige Medikamentengabe) und Arbeiten zumindest unter fallweise besonderem Zeitdruck auszuführen. Die Anforderungen an eine Heimpflege- oder Privatkrankenschwester entsprechen jener einer Diplomkrankenschwester in Krankenhäusern.

In Ambulatorien werden Diplomkrankenschwestern mit leichten körperlichen Tätigkeiten qualifiziert beschäftigt; sie müssen jedoch in der Lage sein, Patienten beim Aufrichten aus einer Liegeposition oder beim Aufstehen behilflich zu sein und in Notfällen Erste-Hilfe-Maßnahmen (Lagerung, eventuell Anwendung eines Defibrillators) bis zum Eintreffen eines Arztes durchzuführen. In Ambulatorien müssen Diplomkrankenschwestern EDV verwenden, weshalb von den Arbeitgebern privat oder im Rahmen einer früheren Arbeitsstelle erworbene EDV-Grundkenntnisse (Textverarbeitung, Internet, E-Mail) vorausgesetzt werden; eine interne Schulung wird nur für betriebsspezifische Software angeboten.

Für die Organisation der Hauspflegedienste werden in kleineren Unternehmen Diplomkrankenschwestern nur für die Erstgespräche (Pflegeanamnese), Einteilung der Pflegedienste, Beantwortung von Anfragen und Sekretariatsarbeiten beschäftigt. Auch dabei werden EDV-Grundkenntnisse im vorhin dargestellten Umfang vorausgesetzt. Diese Personen führen keine Pflege in der Hauskrankenpflege durch.

Die Klägerin verwendet privat einen Computer, mit welchem sie E-Mails schreibt und das Internet benutzt. Mehr führt sie privat mit ihrem Computer nicht aus. Bei ihrer Tätigkeit als Krankenschwester hatte sie auch mit Computern im OP-Bereich zu tun; dabei hat sie Operationsdaten in ein Programm eingegeben.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin habe die Ausbildung zur Diplomkrankenschwester absolviert und sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Diplomkrankenschwester tätig gewesen, sodass die Frage ihrer Berufsunfähigkeit nach der Bestimmung des § 273 ASVG zu beurteilen sei. Wenngleich feststehe, dass die Klägerin unter massiven gesundheitlichen Einschränkungen leide, gebe es auf dem allgemeinen Stellenmarkt noch Verweisungstätigkeiten wie die Tätigkeit einer Diplomkrankenschwester in Ambulatorien oder die qualifizierte Tätigkeit in der Organisation von Hauskrankenpflegediensten, welche die Klägerin noch ausüben könne. Die Klägerin sei daher nicht berufsunfähig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin keine Folge. In der Mängelrüge ihrer Berufung machte die Klägerin geltend, das Erstgericht hätte in Entsprechung seiner Pflicht zur amtswegigen Beweisaufnahme ein ergänzendes berufskundliches Sachverständigengutachen einholen müssen, um zu überprüfen, ob die von ihr im Rahmen ihrer Parteieneinvernahme angegebenen und vom Erstgericht - entsprechend dieser Aussage - festgestellten Computerkenntnisse der Klägerin jenen EDV-Grundkenntnissen entsprechen, die für eine qualifizierte Tätigkeit in den vom Erstgericht genannten Verweisungsberufen vorausgesetzt werden. In ihren Ausführungen zur Beweisrüge begehrte die Klägerin in diesem Zusammenhang die negative Feststellung, es könne nicht festgestellt werden, ob ihre Computerkenntnisse den EDV-Grundkenntnissen, die von einer Diplomkrankenschwester in Ambulatorien oder für eine qualifizierte Tätigkeit in der Organisation von Hauskrankenpflegediensten gefordert werden, entsprechen. Das Berufungsgericht hielt diesen Ausführungen entgegen, die Klägerin habe im Verfahren erster Instanz nie konkret behauptet, dass sie nicht über die im berufskundlichen Sachverständigengutachen für die Ausübung der genannten Verweisungsberufe vorausgesetzten EDV-Grundkenntnisse verfüge. Im Übrigen komme es aus rechtlichen Gründen auf die bei der Klägerin konkret vorhandenen EDV-Grundkenntnisse nicht an.

In den Ausführungen zur Rechtsrüge der Klägerin bejahte das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Verweisbarkeit der Klägerin auf die Tätigkeit einer Diplomkrankenschwester in Ambulatorien und bei der Organisation von Heimkrankenpflegediensten. Ob die Klägerin über die für eine Ausübung dieser beiden genannten Verweisungstätigkeiten nach den Feststellungen erforderlichen EDV-Grundkenntnisse verfüge, sei nicht entscheidungswesentlich, weil es in der Frage der Verweisbarkeit nicht auf die beim Versicherten subjektiv im erlernten Beruf vorhandenen Kenntnisse, sondern vielmehr auf die dem aktuellen Berufsbild - hier: einer Krankenschwester - in Ansehung der Fortentwicklung der einschlägigen Ausbildung objektiv entsprechenden und am Arbeitsmarkt erwarteten Kenntnisse und Fähigkeiten ankomme. Es würde nämlich ein unvertretbares Ergebnis zeitigen, wenn ein Angestellter, der - wie hier die Klägerin - dem Berufsbild entsprechende Fähigkeiten gar nicht besessen habe oder nicht mehr besitze, in der Frage der Verweisbarkeit gegenüber einem die berufsbildmäßigen Kenntnisse und Fähigkeiten aufweisenden Fachkollegen begünstigt und aufgrund dieser persönlichen Umstände früher in den Genuss der Berufsunfähigkeitspension kommen würde. Es gehe daher immer zu Lasten des Versicherten, wenn eine zumutbare Nachschulung wegen zwar grundsätzlich erwartbarer, jedoch im konkreten Fall fehlender Grundkenntnisse des Versicherten nicht möglich sei. Nach § 42 Z 18 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, BGBl I 1997/108, beinhalte die Ausbildung in der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege auch elektronische Datenverarbeitung, fachspezifische Informatik, Statistik und Dokumentation. § 63 GuKG statuiere für Diplomkrankenschwestern eine entsprechende Fort- und Weiterbildungspflicht. Darüber hinaus habe bereits die Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst (BGBl 1992/492) betreffend die Leistungsbeurteilung in Pflichtschulen sowie in mittleren und höheren Schulen schriftliche Überprüfungen im Unterrichtsfach „computerunterstützer Textverarbeitung“ vorgesehen, sodass EDV-Grundkenntnisse längst auch faktischer Bestandteil der Wissensvermittlung in den Pflichtschulen seien. Die Klägerin sei daher nicht berufsunfähig iSd § 273 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, sie im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Zutreffend hält die Klägerin der Argumentation des Berufungsgerichts entgegen, dass sie ihre Schulausbildung (entsprechend der Aktenlage) in Deutschland absolviert hat, weshalb die Bezugnahme des Berufungsgerichts auf die Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst (BGBl 1992/492), mit dem die Leistungsbeurteilungsverordnung (BGBl 1974/371) geändert wurde, nicht maßgebend sein kann, weil sie nichts darüber aussagt, ob auch in Deutschland zu den Schulzeiten der Klägerin EDV-Grundkenntnisse - wie die im vorliegenden Fall angesprochenen - faktischer Bestandteil der Wissensvermittlung in den Pflichtschulen waren. Nichts anderes gilt auch für die Zeit der Berufsausbildung der Klägerin. Die Klägerin hat auch ihre Berufsausbildung zur Krankenschwester in Deutschland absolviert und am 31. 8. 1995 erfolgreich abgeschlossen, sodass auch der Verweis des Berufungsgerichts auf die am 1. 9. 1997 in Kraft getretene Bestimmung des § 42 Z 18 GuKG nicht maßgebend sein kann, weil die dort geforderten Kenntnisse zum Zeitpunkt der Berufsausbildung der Klägerin (in Deutschland) nicht Bestandteil des Ausbildungsinhalts waren. Dies gilt auch für das weitere Argument des Berufungsgerichts, die Klägerin wäre gemäß § 63 Z 2 GuKG im Rahmen der Fortbildung zur Vertiefung ihrer in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten verpflichtet gewesen. Die vom Berufungsgericht für seine Rechtsansicht, es komme für die Frage der Verweisbarkeit der Klägerin auf die bei ihr konkret vorhandenen EDV-Grundkenntnisse nicht an, gegebene Begründung erweist sich daher jedenfalls im vorliegenden Fall als nicht stichhältig.

Die Frage, ob die Klägerin in der Lage ist, die für sie in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten einer Diplomkrankenschwester in Ambulatorien und bei der Organisation von Heimkrankenpflegediensten zu verrichten, insbesondere ob sie auch über die für die Ausübung dieser beiden genannten Verweisungstätigkeiten nach den Feststellungen erforderlichen EDV-Grundkenntnisse verfügt, ist eine Frage der Beweiswürdigung, welche von den Tatsacheninstanzen zu beurteilen ist. Für die Klärung dieser Frage hat das Gericht gemäß § 87 Abs 1 ASGG alle notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen. Da das Berufungsgericht aufgrund einer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht die Beweisrüge der Klägerin zur Frage des Vorliegens der notwendigen EDV-Grundkenntnisse inhaltlich nicht erledigt hat, musste das Berufungsurteil gemäß § 510 Abs 1 ZPO aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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