Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich der rechtskräftigen Teile insgesamt zu lauten hat:
„1. Die Klagsforderung besteht mit 2.511,84 EUR zu Recht.
2. Die eingewendete Gegenforderung besteht bis zur Höhe der Klagsforderung zu Recht.
3. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 5.023,69 EUR samt 4 % Zinsen seit 29. 6. 2009 zu bezahlen, wird daher abgewiesen.
4. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.912,32 EUR (darin 403,22 EUR USt und 493 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 681,68 EUR (darin 62,28 EUR USt und 308 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 12. 5. 2009 ereignete sich gegen 9:30 Uhr in der Schalserstraße in Jenbach ein Verkehrsunfall, an dem Vinzenz L***** als Lenker und Halter eines bei der klagenden Partei kaskoversicherten Pkws und Ferdinand V***** als Lenker und Halter eines bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Pkws beteiligt waren.
Die klagende Partei begehrte den Ersatz von 5.023,69 EUR sA und brachte vor, den Lenker des Beklagtenfahrzeugs treffe das Alleinverschulden, weil er im Rückwärtsgang aus einer Hausausfahrt ausgefahren sei und das im Fließverkehr befindliche Klagsfahrzeug übersehen habe. Er habe dadurch den dem Lenker des Klagsfahrzeugs zukommenden Vorrang verletzt.
Die beklagte Partei erwiderte, das Alleinverschulden treffe den Lenker des Klagsfahrzeugs, der das Beklagtenfahrzeug übersehen habe und zu schnell gefahren sei. Das Beklagtenfahrzeug sei vor der Gehsteigkante angehalten worden und habe sich im Stillstand befunden, als das Klagsfahrzeug aufgefahren sei. Die beklagte Partei wandte eine Gegenforderung von 6.664 EUR aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung bis zu deren Höhe ein.
Das Erstgericht erachtete die Klagsforderung als zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend und gab dem Klagebegehren statt. Dabei ging es im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:
Die Schalserstraße verläuft ostwärts und ist als Einbahnstraße gekennzeichnet. An den nördlichen Fahrbahnrand schließt ein 1,7 m breiter Gehsteig an, am südlichen Fahrbahnrand gibt es Längsparkplätze. Die nutzbare Fahrbahn ist 3,7 m breit. Zwischen zwei nördlich gelegenen Häusern führt eine private Hausausfahrt im rechten Winkel über den Gehsteig zur Fahrbahn. An der westlichen Seite dieser Ausfahrt befindet sich eine 1,45 m hohe Hecke. Unmittelbar vor Einfahrt in die Fahrbahn ist die Sicht auf 50 m gegeben.
Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs blieb beim Rückwärtsfahren vor dem Gehsteig kurz stehen, überquerte ihn und fuhr mit starkem Lenkeinschlag in die Fahrbahn ein. Ob er vor oder beim Überfahren des Asphaltkeils vom Gehsteig noch einmal anhielt, kann nicht festgestellt werden. Beim Anstoß war das Beklagtenfahrzeug im Stillstand. Wie lange er angedauert hat, ist nicht gesichert.
Ebenso kann nicht festgestellt werden, wie schnell der Lenker des Klagsfahrzeugs fuhr. Es können 38 bis 53 km/h (Variante des Klagslenkers) oder auch bis zu 63 km/h (Variante des Beklagtenlenkers) gewesen sein. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs lag bei 10 km/h. Das Beklagtenfahrzeug befand sich bei der Kollision mit allen vier Rädern auf der Fahrbahn, wobei die vorderen Räder näher zur Gehsteigkante waren. Der Kollisionswinkel zwischen den beiden Fahrzeugen betrug ca 5 bis 25°.
Wenn die Geschwindigkeit des Klagsfahrzeugs 38 bis 53 km/h betrug, hätte der Lenker des Beklagtenfahrzeugs durch Anhalten an der Gehsteigkante oder durch eine Notbremsung den Unfall verhindern können. Hätte er an der Gehsteigkante angehalten und wäre er 0,5 sek vor der Kollision im Stillstand gewesen, würde sich für das Klagsfahrzeug eine Bremsausgangsgeschwindigkeit von 63 km/h ergeben; in diesem Fall hätte es der Lenker des Beklagtenfahrzeugs beim Losfahren nicht sehen können.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, dass sich der Lenker des Klagsfahrzeugs gemäß § 19 Abs 6 StVO im Vorrang befunden habe. Der beklagten Partei sei der Beweis einer verspäteten Reaktion oder der Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit seitens des Lenkers des Klagsfahrzeugs nicht gelungen. Die Anwendung des EKHG scheide aufgrund der Vorrangsituation aus.
Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens ab und sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Es vertrat die Ansicht, angesichts der Feststellungen über die mögliche Annäherungsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs sei zugunsten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs davon auszugehen, dass sich das Klagsfahrzeug der späteren Unfallstelle mit bis zu 63 km/h angenähert habe. Aufgrund der weiteren Feststellung über den Stillstand des Beklagtenfahrzeugs im Kollisionsmoment und die Negativfeststellung über die Stillstandsdauer sei zufolge des Günstigkeitsprinzips wiederum zugunsten des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs anzunehmen, dass das Beklagtenfahrzeug mindestens 0,5 sek vor der Kollision zum Stillstand gebracht worden sei. Bei einer Annäherungsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs von 63 km/h und einer Stillstandsdauer des Beklagtenfahrzeugs von 0,5 sek vor der Kollision habe aber der Lenker des Beklagtenfahrzeugs beim Einfahren in die Fahrbahn das Klagsfahrzeug noch nicht wahrnehmen können. Dem Lenker des Beklagtenfahrzeugs könne daher eine Vorrangverletzung nicht vorgeworfen werden, setze doch die Anwendung der Vorrangbestimmungen die Wahrnehmbarkeit des bevorrangten Fahrzeugs voraus. Der klagenden Partei sei somit der Nachweis einer Vorrangsituation nicht gelungen.
Über Antrag der klagenden Partei änderte das Berufungsgericht seinen Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision dahin ab, dass es die ordentliche Revision doch für zulässig erklärte. Aufgrund der die Anwendung der Bestimmungen des EKHG fordernden Ausführungen der klagenden Partei könne eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung der Berufungsentscheidung nicht ausgeschlossen werden.
Die klagende Partei bekämpft in ihrer Revision die Entscheidung des Berufungsgerichts (nur) insoweit, als dieses nicht zum Ausspruch einer gleichteiligen Haftung gelangte und das Klagebegehren unter Berücksichtigung der eingewendeten Gegenforderung abgewiesen hat. Sie beantragt die Abänderung der angefochtenen Entscheidung in diesem Sinne. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Beweislastverteilung bei der Verletzung von Schutznormen abgewichen ist. Sie ist im Ergebnis auch berechtigt.
Nach Ansicht der klagenden Partei sei das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass keinem der beiden Lenker ein Verschulden angelastet werden könne, wehalb es in Anwendung der Bestimmungen des EKHG zu einer Haftungsteilung im Verhältnis von 1 : 1 gelangen hätte müssen.
Hiezu wurde erwogen:
1. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs trifft bei einer Schutzgesetzverletzung den Geschädigten die Beweislast für den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes, wobei der Nachweis der Tatsache ausreichend ist, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Der Schädiger hat dagegen zu beweisen, dass ihm die objektive Übertretung der Schutznorm nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, etwa weil ihn an der Übertretung kein Verschulden traf (2 Ob 123/06m mwN; RIS-Justiz RS0112234).
Stützt der Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch auf eine Vorrangverletzung, so hat er den von der Schutznorm erfassten Tatbestand, also das Bestehen einer Vorrangsituation nachzuweisen (2 Ob 181/97z; 2 Ob 23/09k). Dies setzt die Klärung der Frage voraus, welches Fahrzeug aus welcher Straße kam und in welchem Verhältnis die betreffenden Verkehrsflächen zueinander stehen (2 Ob 181/97z; RIS-Justiz RS0112234). Da der Lenker des Beklagtenfahrzeugs aus einer Hausausfahrt (§ 19 Abs 6 StVO) kam und in die Fahrbahn einfuhr, ist der klagenden Partei der diesbezügliche Beweis gelungen.
2. Die Anwendung der Vorrangbestimmungen setzt die Wahrnehmbarkeit des anderen Fahrzeugs für den an und für sich Wartepflichtigen voraus (RIS-Justiz RS0044241). Nach der erörterten Beweislastverteilung lag es an der beklagten Partei, den Beweis dafür zu erbringen, dass das herannahende Klagsfahrzeug für den Lenker des Beklagtenfahrzeugs vor der Einfahrt in die bevorrangte Verkehrsfläche nicht wahrnehmbar war. Dieser Beweis ist der beklagten Partei nicht gelungen. Die insoweit verbliebenen Unklarheiten gehen - anders als vom Berufungsgericht angenommen - zu Lasten der beklagten Partei (vgl 2 Ob 181/97z). Umstände, die auf fehlendes Verschulden des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs hindeuten könnten, stehen ebenfalls nicht fest. Wie dies das Erstgericht völlig richtig erkannte, wäre daher von einer rechtswidrigen und schuldhaften Vorrangverletzung durch den Lenker des Beklagtenfahrzeugs auszugehen gewesen.
3. Die beklagte Partei hat auch den ihr obliegenden Beweis der Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit durch den Lenker des Klagsfahrzeugs nicht erbracht. Auch die in diesem Punkt verbleibenden Unklarheiten gehen zu ihren Lasten (RIS-Justiz RS0037797 [T27], RS0022560 [T8]). Nach den Feststellungen lag die Annäherungsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs in einem Bereich zwischen 38 und 63 km/h. Der rechtlichen Beurteilung ist der geringste der innerhalb dieses Spielraums liegenden Geschwindigkeiten zugrunde zu legen (vgl 2 Ob 18/08y mwN; RIS-Justiz RS0022560 [T13]). Das bedeutet, dass dem Lenker des Klagsfahrzeugs kein Mitverschulden anzulasten ist.
4. Die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils ist dem erkennenden Senat jedoch verwehrt. Die Rechtsmittelanträge grenzen die Entscheidungsbefugnis des Rechtsmittelgerichts ab (Fasching in Fasching/Konecny² Einl IV/1 Rz 80). Die Abänderung des angefochtenen Urteils ist daher nur im Rahmen des von der klagenden Partei formulierten Revisionsantrags möglich, weshalb in Stattgebung der Revision die aus dem Spruch ersichtliche Entscheidung zu treffen ist (zu deren abändernden Charakter vgl 8 Ob 31/86; RIS-Justiz RS0041258).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die klagende Partei ist in den Vorinstanzen unterlegen, im Revisionsverfahren jedoch als obsiegend anzusehen (vgl 5 Ob 120/09x). Für die Revision gebührt lediglich ein Erhöhungsbeitrag von 1,80 EUR (§ 23a RATG).
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