OGH 13Os120/11p

OGH13Os120/11p13.10.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. Oktober 2011 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ludwig als Schriftführer in der Strafsache gegen Gabriel E***** und einen anderen Angeklagten wegen Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 31 Hv 197/09t des Landesgerichts Salzburg, über den auf das Urteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 17. Mai 2011, AZ 8 Bs 138/10s (ON 74 der Hv-Akten), bezogenen Antrag der Generalprokuratur auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur werden das Urteil und der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 17. Mai 2011, AZ 8 Bs 138/10s (ON 74 der Hv-Akten), aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung über die Berufungen sowie die Beschwerden des Angeklagten Gabriel E***** und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 3. Dezember 2009 (ON 11) sowie den unter einem gefassten Beschluss auf Absehen vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht und Verlängerung der diesbezüglichen Probezeit verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 3. Dezember 2009 (ON 11) wurde Gabriel E***** mehrerer Vergehen schuldig erkannt und hiefür zu einer (teils bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe verurteilt. Mit gleichzeitig gefasstem Beschluss (§ 494a Abs 4 StPO) sah das Erstgericht vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht ab, verlängerte jedoch die diesbezügliche Probezeit auf fünf Jahre.

Gegen das Urteil erhoben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung (ON 10 S 7).

Letztere bekämpfte zudem den gleichzeitig gefassten Beschluss mit Beschwerde (ON 10 S 7), die Beschwerde des Angeklagten gegen die Verlängerung der Probezeit ist gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO als erhoben zu betrachten.

Die Ladung des Angeklagten - der nicht durch einen Verteidiger vertreten war und auf die Teilnahme an der Berufungsverhandlung nicht verzichtete - zu eben dieser vor dem Oberlandesgericht Linz wurde nach einem am 23. März 2011 an dessen (inländischer) Wohnadresse vorgenommenen Zustellversuch am 24. März 2011 beim zuständigen Postamt hinterlegt (ON 87 S 2).

In Ansehung dieser Hinterlegung führte das Oberlandesgericht Linz die Berufungsverhandlung, in deren Rahmen es die Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit zurückwies und seiner Berufung im Übrigen, jener der Staatsanwaltschaft sowie deren Beschwerde nicht Folge gab (ON 74), in Abwesenheit des Angeklagten durch (ON 73).

Über die gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO als erhoben zu betrachtende Beschwerde des Angeklagten wurde - entgegen § 498 Abs 3 letzter Satz StPO - nicht entschieden.

Am 27. Juli 2011 erklärte der (nunmehr rechtskräftig) Verurteilte vor dem Landesgericht Salzburg zu Protokoll, dass er sich zur Zeit des Zustellversuchs und der Hinterlegung der Ladung zur Berufungsverhandlung infolge Todes seiner Mutter in seiner Heimat Nigeria aufgehalten habe (ON 89 S 1). Zum Nachweis dafür legte er Kopien mehrerer Urkunden vor, nach denen Vero E*****, deren einziges Kind Gabriel E***** war, am 15. Jänner 2011 verstarb (ON 89 S 15) und Gabriel E***** am 9. März 2011 nach einem Flug von München über Paris nach Lagos in Nigeria einreiste (ON 89 S 5 bis 11) und am 8. und 9. Juni 2011 rückreiste (ON 89 S 7, 11).

Diese Urkunden legen nahe, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Hinterlegung der Ladung zur Berufungsverhandlung (24. März 2011) nicht an seiner inländischen Zustelladresse aufhielt.

§ 8 ZustG, wonach eine Partei, die während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, ihre bisherige Abgabestelle ändert, dies der Behörde unverzüglich mitzuteilen hat (Abs 1), und wonach die Zustellung durch Hinterlegung im Fall des Unterlassens dieser Mitteilung auch bei Abwesenheit von der Abgabestelle zulässig ist (Abs 2), kommt gemäß § 82 Abs 2 StPO hier nicht zur Anwendung.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur zutreffend darlegt, führte das Oberlandesgericht Linz die Berufungsverhandlung rechtsfehlerfrei in Abwesenheit des Angeklagten durch, weil die Zustellung der Ladung zu dieser Verhandlung nach der im Entscheidungszeitpunkt gegebenen Aktenlage ordnungsgemäß war.

Die nachträglich vorgelegten Urkunden wecken hieran aber erhebliche Bedenken. Dies greift die Generalprokuratur zulässigerweise mit einem Antrag auf Wiederaufnahme auf, weil die analoge Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO durch den Obersten Gerichtshof stets dann in Betracht kommt, wenn sich - wie hier - herausstellt, dass letztinstanzliche strafgerichtliche Entscheidungen, die nicht vom Obersten Gerichtshof gefällt worden sind, auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv unrichtigen Verfahrensgrundlage ergangen sind, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0117312, RS0117416; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16, 362 Rz 4).

Demnach waren in Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur das Urteil sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 17. Mai 2011 (ON 74) aufzuheben und diesem Gericht die Entscheidung über die Berufungen sowie die Beschwerden des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft aufzutragen.

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