OGH 2Ob211/10h

OGH2Ob211/10h30.5.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** E*****, vertreten durch Dr. Peter Kaltschmid, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. I***** GmbH, *****, und 2. ***** W***** AG *****, beide vertreten durch Altenweisl Wallnöfer Watschinger Zimmermann Rechtsanwälte GmbH in Innsbruck, wegen 19.324 EUR sA und Feststellung (Streitwert 10.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien (Revisionsinteresse 14.662 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 22. Juli 2010, GZ 3 R 81/10a-19, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 20. Mai 2010, GZ 10 Cg 171/09a-15, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 1.076,51 EUR (darin enthalten 179,42 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Klägerin kam in einem vom Bediensteten der Erstbeklagten gelenkten und von dieser gehaltenen und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten städtischen Linienbus infolge eines Bremsmanövers des Buslenkers zu Sturz und verletzte sich dabei schwer. Sie hatte auf einem gangseitigen Sitz Platz genommen, war über Ersuchen ihrer Sitznachbarin, einer auf einem Fensterplatz sitzenden älteren Dame, sie aus dem Zwischenbereich zwischen den Sitzen heraus zu lassen, aufgestanden und hatte sich an der Reling über der Rücklehne des Vordersitzes mit der rechten Hand festgehalten, während sie mit der linken Hand ihre Einkaufs- und ihre Handtasche hielt. Die starke Bremsverzögerung beim Bremsvorgang war durch Körperkraft nicht ausgleichbar, der Sturz war daher für die Klägerin unabhängig vom Anhalten unvermeidbar. Nur in sitzender Position wäre die Sturzgefahr nicht gegeben gewesen.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben, das Berufungsgericht hat die Revision im Hinblick auf dort zitierte deutsche Rechtsprechung, wonach das Verlassen eines Sitzplatzes ohne zwingenden Grund regelmäßig eine Mithaftung begründe, nachträglich zugelassen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist - ungeachtet des Zulässigkeitsausspruchs des Berufungsgerichts - in Ermangelung von erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Die Revision der Beklagten hat ausschließlich die Frage einer gemäß § 1304 ABGB zu berücksichtigenden Sorglosigkeit der Klägerin in eigenen Angelegenheiten zum Gegenstand. Die Beklagten machen geltend, dass die Klägerin durch ihr in der gegebenen Situation nicht zwingend erforderliches Aufstehen die Gefahr, bei einem etwaigen Bremsmanöver zu Sturz zu kommen und sich dabei zu verletzen, wesentlich erhöht habe. Sie hätte mit einer starken Bremsung des Busses rechnen und ihr Verhalten darauf einstellen müssen. Das Aufstehen der Klägerin sei nicht zwingend geboten gewesen. Sie hätte ihre Sitznachbarin auch durch ein bloßes Zurseiteklappen der Beine aussteigen lassen können. Falls es sich dabei nicht um eine notorische Tatsache handle, werde das Fehlen einer dahingehenden Feststellung als sekundärer Feststellungsmangel gerügt. Das Verhalten der Klägerin habe zum Zustandekommen des Verkehrsunfalls in gleicher Weise beigetragen wie die starke Bremsung des Lenkers der Erstbeklagten, weshalb von einer Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 auszugehen sei.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

1. Das Mitverschulden iSd § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Auch Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern, worunter auch die Gesundheit fällt. Dabei darf der anzulegende Sorgfaltsmaßstab nicht überspannt werden. Das Ausmaß eines allfälligen Mitverschuldens des Geschädigten kann wegen seiner Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RIS-Justiz RS0022681 [T8]; RS0032045).

2. Die Beklagten stützen sich bei der Begründung des Mitverschuldens der Klägerin auf deutsche Rechtsprechung. In den von ihnen zitierten Entscheidungen ist zwar unter anderem davon die Rede, dass sich der Fahrgast sicheren Halt zu verschaffen hat (ua OLG Düsseldorf 1 U 251/71; OLG Hamm 13 U 45/99). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass - nach Auffassung deutscher Gerichte - bereits jedes Aufstehen vom Sitzplatz eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten begründen würde (vgl etwa die ebenfalls von den Beklagten zitierte Entscheidung des OLG Hamm zu 13 U 29/98, wonach jedenfalls bei ausreichendem Festhalten einem Fahrgast deshalb nicht vorgeworfen werden könne, bei Annäherung an die Haltestelle seinen Sitzplatz verlassen und sich zur Tür begeben zu haben). Im Übrigen stellt § 502 Abs 1 ZPO nicht auf ausländische sondern auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab.

3. Der Senat hat zu 2 Ob 50/82 (= ZVR 1983/318) ein Mitverschulden des Verletzten (Vernachlässigung der ihm zumutbaren Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten) verneint, wenn ein Fahrgast einer Straßenbahn, der sich an der Haltestange festgehalten hat, durch eine Schnellbremsung der Straßenbahn losgerissen wird und zu Boden stürzt.

4. Gemäß § 11 der Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Kraftlinienverkehr, BGBl II Nr 47/2001, hat sich jeder Fahrgast im Fahrzeug dauernd festen Halt zu verschaffen. Schäden, die durch Außerachtlassen dieser Vorsichtsmaßnahme eintreten, hat der Fahrgast zu tragen.

5. Im vorliegenden Fall haben die Tatsacheninstanzen festgestellt, dass sich die Klägerin festgehalten hat. Sie hatte sich daher einen „festen Halt“ verschafft. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, wonach der stehenden, sich Halt verschaffenden Klägerin - ungeachtet des Grundes ihres Stehens (anstatt Sitzens) im Bus - keine Mithaftung infolge Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten treffe, ist daher vertretbar. Die Ausführungen der Revisionswerberinnen zeigen keine auffallende Fehlbeurteilung auf, die vom Obersten Gerichtshof aufzugreifen wäre. Im Übrigen ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn ein Fahrgast in der festgestellten Situation aufsteht, um seinem Sitznachbarn ein Passieren zu ermöglichen, und diesen nicht zwingt, sich an ihm vorbeizuzwängen.

Die Revision ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 50 und 41 Abs 1 ZPO. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

Stichworte