OGH 7Ob234/10b

OGH7Ob234/10b27.4.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Schwarzenbacher und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen C***** J*****, geboren am *****, und A***** J*****, geboren am *****, Antragstellerin (Mutter): E***** S*****-J*****, vertreten durch Dr. Manfred Harrer, Rechtsanwalt in Linz, Antragsgegner (Vater): J***** J*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar und Mag. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 9. September 2010, GZ 15 R 334/10h-25, womit über Rekurs des Antragsgegners der Beschluss des Bezirksgerichts Perg vom 6. Juli 2010, GZ 2 Ps 182/10x-7, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Das Rekursgericht sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob zur Begründung der „Sperrwirkung“ des § 16 HKÜ ein Einlangen des Antrags auf Rückführung der Kinder beim „tatsächlich zuständigen“ Gericht erforderlich sei oder ob ein Einlangen beim nach den Antragsbehauptungen zuständigen Gericht ausreiche.

Entgegen dem - den Obersten Gerichtshof nicht bindenden - Ausspruch des Rekursgerichts ist jedoch der Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG unzulässig. Daher kann die Entscheidung sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Der Revisionsrekurs räumt ein, dass die Antragstellung nach dem HKÜ die Unterbrechung eines anhängigen Sorgerechtsverfahrens gemäß Art 16 HKÜ bewirke und eine sogenannte „Sperrwirkung“ eintrete, auf Grund derer eine Sachentscheidung über das Sorgerecht nicht mehr getroffen werden könne. Die Rechtsmittelwerberin meint jedoch, dass hier gar keine Sachentscheidung vorliege, weil es sich um eine vorläufige Obsorgeentscheidung handle. Außerdem habe der Antragsgegner durch seine „um einen Tag schnellere Antragstellung“ beim unzuständigen Gericht den Antrag der Mutter nicht „überholen“ und damit eine vorläufige Entscheidung des Erstgerichts nicht verhindern können. Maßgeblich für die Sperrwirkung des Art 16 HKÜ sei das Einlangen des Antrags beim zuständigen Gericht (am 24. 6. 2010); jenes beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien (am 18. 6. 2010) habe „noch“ keine Verfahrensunterbrechung auslösen können.

Die Revisionsrekursbeantwortung bestreitet das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage und hält den Rechtsmittelausführungen entgegen, dass das Hindernis der Sperrwirkung nach Art 16 HKÜ mit der Kenntniserlangung der Sorgerechtsverletzung beginne. Es komme auf die „Mitteilung“ an, nicht hingegen auf eine Antragstellung „bzw gar“ auf die Antragstellung beim zuständigen Gericht. Dem entspreche auch die Judikatur des Obersten Gerichtshofs, wonach auch bereits anhängige Sorgerechtsverfahren im Zufluchtsstaat jedenfalls auszusetzen seien, wenn in der Folge ein Antrag auf Rückführung nach dem HKÜ gestellt werde, was auch für Entscheidungen über das Aufenthaltsrecht als Teil des Sorgerechts gelte (5 Ob 260/09k, EF-Z 2010/91).

Dazu wurde erwogen:

Nach Art 16 HKÜ ist es den Gerichten untersagt, nach Erhalt einer Mitteilung über eine widerrechtliche Kindesentführung im Sinn des Art 3 HKÜ eine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, solange nicht entschieden ist, dass das Kind auf Grund des HKÜ nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach Mitteilung kein Antrag nach dem HKÜ gestellt wird.

Art 16 HKÜ bewirkt die Unterbrechung eines anhängigen Sorgerechtsverfahrens und gibt dem Rückführungsverfahren nach dem HKÜ Vorrang. Bereits anhängige Sorgerechtsverfahren im Zufluchtsstaat sind jedenfalls auszusetzen. Es tritt eine sogenannte - vom Revisionsrekurs ausdrücklich zugestandene - „Sperrwirkung“ ein, auf Grund derer keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr getroffen werden darf; das gilt auch für Entscheidungen über das Aufenthaltsrecht als Teil des Sorgerechts (RIS-Justiz RS0125759).

In der Entscheidung 5 Ob 260/09k (EvBl 2010/95 = EF-Z 2010/91 [Gitschthaler]), die dem eben zitierten Rechtssatz zugrunde liegt, hat der Oberste Gerichtshof Folgendes ausgeführt:

Nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs tritt eine sog „Sperrwirkung“ ein, auf Grund derer keine Sachentscheidung über das Sorgerecht mehr getroffen werden darf (vgl 1 Ob 550/92 ...; Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht Rz 09.20). ... Ist dennoch eine Sorgerechtsentscheidung ergangen, stellt sie nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 17 HKÜ keinen Grund dar, die Rückgabe des Kindes zu verweigern. Der entführende Elternteil soll nicht dadurch, dass er in einem anderen als dem Herkunftsstaat des Kindes - insbesondere nicht im Zufluchtsstaat - eine ihm günstige Sorgerechtsentscheidung erstreitet, die Rückgabe verhindern können. Der ersuchte Staat darf nicht allein wegen der im Inland wirksamen entgegengesetzten Entscheidung die Rückgabe ablehnen (vgl Vomberg/Nehls, Rechtsfragen der internationalen Kindesentführung, 35 mwN; Nademleinsky/Neumayr aaO). Anträgen nach dem HKÜ kann nach der Regelung des Art 17 HKÜ nicht durch innerstaatliche Entscheidungen über das Sorgerecht der Boden entzogen werden (vgl auch Pirrung in Staudinger, Internationales Kindschaftsrecht 2, D 80 ff). ... Die von den Vorinstanzen als Begründung für die Abweisung des Vollstreckungsantrags herangezogenen Gründe sind also nicht tragfähig, weil es der Antragsgegnerin trotz der ihr übertragenen vorläufigen Obsorge nicht frei steht, den Aufenthaltsort ihrer Kinder entgegen der die Rückgabe nach dem HKÜ anordnenden Entscheidung ... zu bestimmen.

Entgegen der Ansicht der Rechtsmittelwerberin entspricht es somit den vom Obersten Gerichtshof bereits dargelegten Grundsätzen, dass auch eine - wie hier vom Erstgericht ausgesprochene - vorläufige Übertragung der Obsorge an die Mutter der Sperrwirkung des Art 16 HKÜ unterliegt und jedenfalls auch nicht mehr erlassen werden kann, wenn ein Rückführungsantrag eingelangt ist.

Dem Umstand, ob diese Wirkung bereits mit der Antragstellung nach dem HKÜ beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien eintrat, oder - wie der Revisionsrekurs meint - erst mit Kenntnis des Bezirksgerichts Linz (als dem nach § 5 Abs 1 des Bundesgesetzes zur Durchführung des HKÜ für die Entscheidung über Rückführungsanträge nach dem HKÜ zuständigen Bezirksgericht am Sitz des Gerichtshofs erster Instanz, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält [vgl RIS-Justiz RS0126064]), kommt keine Bedeutung zu. Selbst wenn man den von der Rechtsmittelwerberin zugestandenen späteren Zeitpunkt (24. 6. 2010) zugrunde legt, hat das Rekursgericht den Beschluss des Erstgerichts vom 6. 7. 2010 nämlich zu Recht aufgehoben. Das Erstgericht hat jedenfalls - ob nun der Antrag des Vaters auf Rückführung der Kinder vor oder nach dem Antrag der Mutter auf Übertragung der vorläufigen Obsorge als gerichtsanhängig zu qualifizieren ist - zu Unrecht über letzteren Antrag entschieden (vgl auch Vomberg/Nehls, Rechtsfragen der internationalen Kindesentführung, 34 f mwN [FN 100, 101]).

Mangels erheblicher Rechtsfragen im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs daher zurückzuweisen.

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