OGH 12Os80/09w

OGH12Os80/09w29.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Oktober 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärtin Mag. Metzler als Schriftführerin, in der Strafvollzugssache des S***** S***** wegen bedingter Entlassung nach § 46 Abs 1 StGB über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 28. April 2009, AZ 10 Bs 124/09w, erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 28. April 2009, AZ 10 Bs 124/09w (GZ 42 BE 267/08m-38 des Landesgerichts Salzburg) verletzt § 89 Abs 2 zweiter Satz StPO.

Text

Gründe:

Mit Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 5. Mai 2008, GZ 13 BE 261/08x-5, wurde die bedingte Entlassung des Strafgefangenen S***** S***** gemäß § 46 Abs 1 StGB abgelehnt. In Stattgebung der Beschwerde des Verurteilten änderte das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 17. Juni 2008, AZ 10 Bs 195/08k (ON 9 der BE-Akten), den angefochtenen Beschluss dahin ab, dass dem Strafgefangenen der Rest der über ihn verhängten Freiheitsstrafen gemäß § 46 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Unter einem ordnete das Rechtsmittelgericht Bewährungshilfe an und erteilte dem Verurteilten gemäß §§ 50, 51 Abs 1 und 3 StGB die Weisung, sich unmittelbar nach seiner Entlassung einer stationären Psychotherapie zu unterziehen sowie den Beginn seiner Therapie binnen 14 Tagen nach seiner Entlassung und deren Durchführung sodann kalendervierteljährlich dem Erstgericht unaufgefordert nachzuweisen.

Das die Strafvollzugssache zum AZ 42 BE 267/08m weiterführende (ON 13) Landesgericht Salzburg fasste nach förmlicher Mahnung (ON 17) und Anhörung gemäß § 180 Abs 2 StVG (ON 22) am 3. April 2009 den Beschluss auf Widerruf der bedingten Entlassung (ON 34).

Das Oberlandesgericht Linz gab der Beschwerde des Verurteilten mit der nunmehr bekämpften Entscheidung vom 28. April 2009, AZ 10 Bs 124/09w (ON 38), Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

Der Begründung zufolge könne die vom Gesetz für den Widerruf vorausgesetzte mutwillige Nichtbefolgung der aufgetragenen Weisung im Sinne des § 53 Abs 2 StGB noch nicht abschließend beurteilt werden. Insbesondere die genauen Umstände eines vom Beschwerdeführer behaupteten Gesprächs zur Aufnahme in einer vom Rechtsmittelwerber aufgesuchten Therapiestation seien noch zu erheben (Beschwerdeentscheidung S 4 f).

Die Generalprokuratur erblickt in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz vom 28. April 2009 eine Verletzung des Gesetzes in der Bestimmung des § 89 Abs 2 zweiter Satz StPO.

Nach dieser Vorschrift hat das Beschwerdegericht - mit Ausnahme der hier nicht vorliegenden Fälle des § 89 Abs 2 erster Satz und Abs 5 zweiter Satz StPO - selbst in der Sache zu entscheiden (vgl Fabrizy, StPO10 § 89 Rz 3; Ratz, WK-StPO Vor § 280 Rz 6; Bertel/Venier, Strafprozessrecht³ Rz 171; RIS-Justiz RS0123977; 13 Os 169/08i, 17/09p). Darunter ist eine bestätigende oder reformatorische Erledigung der Beschwerde zu verstehen.

Die vom Beschwerdegericht vorgenommene Kassation entspricht daher nach Auffassung der Generalprokuratur in Ermangelung des Vorliegens eines dazu berechtigenden Ausnahmefalls nicht dem Gesetz.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Sowohl die von der Generalprokuratur zitierte Literatur als auch andere Autoren (vgl Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren Rz 345; Schwaighofer, Die neue Strafprozessordnung, 193) sowie die Gesetzesmaterialien (vgl EBRV StpRefG, 25 BlgNR XXII. GP , 117), gehen davon aus, dass das Beschwerdegericht grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden hat. Eine kassatorische Vorgangsweise wird dabei nicht generell ausgeschlossen.

Es sollte nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts sein, in jedem Fall fehlende, indes für die Entscheidung essentielle Sachverhaltsannahmen durch Beweisaufnahme selbst zu erheben. Dies gebietet schon die grundsätzliche Funktionsaufteilung zwischen den Instanzen, wonach es dem Gericht erster Instanz insbesondere obliegt, die für eine meritorische Entscheidung notwendigen Tatsachen mängelfrei festzustellen und rechtlich zu beurteilen, während das Gericht zweiter Instanz in Bezug darauf Kontrollaufgaben erfüllt (vgl Tipold, WK-StPO § 114 aF Rz 21; s auch Ratz, WK-StPO Vor § 280 Rz 2). Obgleich dem Rechtsmittelgericht auch in Beschwerdesachen die volle Kognitionsbefugnis in Rechts- und Tatsachenfragen zukommt, spräche die dargestellte Funktionsaufteilung zumindest für eine Kassationsmöglichkeit bei qualifiziert unzureichender Sachverhaltserhebung durch das Erstgericht.

In der Sache selbst entscheiden (wie dies auch bei Entscheidungen über Rechtsmittel gegen Urteile im § 288 Abs 2 Z 3 StPO und § 476 StPO vorgesehen ist) bedeutet jedoch zufolge unübersteiglicher grammatikalisch-systematischer Interpretation, dass der Prozessgegenstand inhaltlich endgültig, also konfirmativ oder reformatorisch erledigt wird. Zu einer teleologischen Reduktion sah sich der Oberste Gerichtshof nicht in der Lage: Die Gesetzesmaterialien (vgl EBRV StpRefG 25 BlgNR XXII. GP , 117) lassen eine praktische Umsetzung der angeführten Utilitätsüberlegungen nicht zu. Denn der Gesetzgeber ordnete - in Abweichung von der bisherigen, auf § 114 StPO aF gegründeten Vorgangsweise der Beschwerdegerichte - ausdrücklich Entscheidung „in der Sache" an, selbst (aber nicht primär) für den Fall (nach Beschwerdeerhebung) weggefallener Beschwer. Überdies fehlt es für das Beschwerdeverfahren an einer korrespondierenden Norm zu § 293 Abs 2 StPO, der im Verfahren zur Anfechtung von Urteilen explizite Bindung des Erstgerichts an die Rechtsansicht der kassatorischen Rechtsansicht des Rechtsmittelgerichts vorsieht.

Abhilfe gegen eine sachlich nicht gerechtfertigte Verschiebung der Aufgabenverteilung zu Lasten des Rechtsmittelgerichts bietet allerdings § 89 Abs 5 erster Satz StPO: Statt einer im Gesetz nicht vorgesehenen Kassation eines mangelhaften Beschlusses kann das Rechtsmittelgericht Aufklärungen der Art und des Umfangs verlangen, die es für seine meritorische Entscheidung erforderlich erachtet. Das notwendige rechtliche Gehör sichert § 89 Abs 5 zweiter Satz StPO.

Da das Oberlandesgericht im Gegenstand den mangelhaften erstgerichtlichen Beschluss nicht zum Anlass für Aufklärungen gemäß § 89 Abs 5 erster Satz StPO machte, sondern ihn unter Benennung ergänzender Erhebungen kassierte, verließ es die ihm nach § 89 Abs 2 StPO zugewiesenen Befugnisse.

Dies war über Antrag der Generalprokuratur festzustellen.

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