OGH 6Ob181/09z

OGH6Ob181/09z18.9.2009

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Tarmann-Prentner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Hans G*****, geboren am 15. März 1993, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Maria del C*****, Spanien, vertreten durch Dr. Oswin Hochstöger, Rechtsanwalt in Gmünd, als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Rekursgericht vom 22. Juli 2009, GZ 2 R 78/09x-47, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die Vorinstanzen haben übereinstimmend die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts zur Entscheidung über den gemeinsamen Antrag des Vaters und des minderjährigen Hans, dessen Mutter die Obsorge zu entziehen und sie dem Vater zu übertragen, im Hinblick auf Art 8 Abs 1 EuEheVO (VO [EG] Nr. 2201/2003 des Rates) bejaht. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass nach dem Außerstreitgesetz BGBl 2003/111 auch eine vom Rekursgericht verneinte Nichtigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens im Revisionsrekurs neuerlich geltend gemacht werden kann (10 Ob 25/06h; 6 Ob 132/07s; 6 Ob 167/07p). Die Argumentation der Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, sie habe dem Aufenthalt des vom Vater widerrechtlich nach Österreich verbrachten Minderjährigen in Österreich nicht zugestimmt, weshalb gemäß Art 10 lit a EuEheVO weiterhin die Gerichte Spaniens zuständig seien, ist daher nicht von vorneherein als unzulässig zurückzuweisen.

1.1. Nach Art 4 des Haager Kindesentführungsübereinkommens 1980 wird dieses Übereinkommen nicht mehr angewendet, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat. Dies war hier bereits zum Zeitpunkt der Rekurserhebung durch die Mutter gegen den erstinstanzlichen Beschluss, mit dem ihr die Obsorge entzogen und dem Vater übertragen worden war, der Fall. Ab diesem Zeitpunkt waren auf dem Übereinkommen basierende Maßnahmen somit ausgeschlossen, und zwar unabhängig davon, dass Entführung und (allfällige) Antragstellung nach dem Übereinkommen bereits vor dem 15. 3. 2009 stattgefunden hatten (arg: „nicht mehr angewendet, sobald"; vgl Schütz in Burgstaller/Neumayr, Internationales Zivilverfahrensrecht [2006] Rz 4 insbesondere unter Hinweis auf die Materialien).

1.2. Nach Art 10 EuEheVO bleiben bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückbehalten eines Kindes grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig; diese Bestimmung geht Art 8 Abs 1 EuEheVO vor (vgl Abs 2 leg cit).

Allerdings sieht die EuEheVO keine eigene Rechtsgrundlage für die Rückführung widerrechtlich verbrachter oder zurückgehaltener Kinder vor (Kodek/Klauser, JN/ZPO16 [2006] Art 11 EuEheVO Anm 3), sondern ergänzt beziehungsweise modifiziert lediglich das Haager Kindesentführungsübereinkommen 1980 bei Fällen innerhalb der Europäischen Union (Schütz, Zwischenstaatliche Vereinbarungen, die für Familienrichter bedeutsam sein könnten [Stand 1. Oktober 2005], RZ 2005, 238; Mayr/Fucik, Das neue Verfahren außer Streitsachen³ [2006] Rz 432g; Holzmann, Brüssel IIa VO: Elterliche Verantwortung und internationale Kindesentführungen [2008] 168; vgl auch L. Fuchs, Internationale Zuständigkeit in Außerstreitverfahren [2004] Rz 190; Fleige, Die Zuständigkeit für Sorgerechtsentscheidungen und die Rückführung von Kindern nach Entführungen nach Europäischem IZVR [2006] 291; in diesem Sinn auch 5 Ob 17/08y EF-Z 2008/93 [Nademleinsky] = iFamZ 2008/110 [Fucik]). Das obiter dictum in der Entscheidung 5 Ob 17/08y betreffend das Verhältnis von Haager Kindesentführungsübereinkommen 1980 und EuEheVO scheint auf eine Verwechslung der beiden Verordnungen (EG) Nr. 2201/2003 (auch Brüssel IIa-VO) und (EG) Nr. 1347/2000 (auch Brüssel II-VO) je des Rates zurückzuführen zu sein (vgl Fucik, iFamZ 2008/110 [Entscheidungsanmerkung]); tatsächlich findet die EuEheVO (Brüssel IIa-VO) auf einen Entführungsfall von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat Anwendung; für einen solchen Fall inkorporiert die Verordnung das Haager Kindesentführungübereinkommen 1980, regelt die Zuständigkeiten und modifiziert das Rückführungsverfahren (Nademleinsky, EF-Z 2008, 152 [Entscheidungsanmerkung]; ebenso Fucik aaO und Tews, Abstammung, Adoption, Besuchsrecht und Obsorge, Kindesentführung [2008] 603). Daher sind auch die - das Haager Kindesentführungsübereinkommen 1980 eben lediglich ergänzenden beziehungsweise modifizierenden - Bestimmungen der EuEheVO nur bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres des Kindes anzuwenden (Holzmann aaO mwN).

Da im vorliegenden Fall angesichts des Alters des Minderjährigen das Haager Kindesentführungsübereinkommen 1980 nicht (weiter) anzuwenden ist, ist die Bejahung der internationalen Zuständigkeit österreichischer Gerichte gemäß Art 8 Abs 1 EuEheVO durch die Vorinstanzen im Ergebnis durchaus vertretbar, ohne dass es auf die Frage einer (allfälligen) Zustimmung der Mutter im Sinne des Art 10 lit a EuEheVO noch ankäme; dass der Minderjährige zwischenzeitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat, stellt die Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs nicht (mehr) in Frage.

2. Die Vorinstanzen haben vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Minderjährigenschutzübereinkommens BGBl 1975/446 die Frage geprüft, ob die Rechtsordnungen Spaniens und Deutschlands, deren Staatsangehöriger der Minderjährige ist, dem § 176 Abs 1 ABGB vergleichbare Eingriffsnormen kennen, und diese Frage bejaht; auch in diesem Punkt wendet sich der außerordentliche Revisionsrekurs nicht gegen die Auffassung des Rekursgerichts.

3. Die Übertragung der Obsorge gemäß § 176 ABGB von einem Elternteil auf den anderen ist jedoch eine solche des Einzelfalls, sofern dabei auf das Wohl des Kindes ausreichend Bedacht genommen wurde (RIS-Justiz RS0115719 uva). Dass die Vorinstanzen diesen Umstand außer Acht gelassen hätten, behauptet die Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs nicht konkret; sie gesteht vielmehr sogar zu, dass der Minderjährige selbst den Wunsch geäußert habe, beim Vater in Österreich zu leben (zur Berücksichtigung eines derartigen Wunsches vgl RIS-Justiz RS0048820).

Damit tritt aber die Frage, ob die besseren schulischen Erfolge des Minderjährigen seit seiner Rückkehr nach Österreich allein einen Obsorgewechsel rechtfertigen könnten, in den Hintergrund. Im Übrigen dürfen auch die Feststellungen der Vorinstanzen nicht unberücksichtigt bleiben, wonach es aufgrund der durch sprachliche Defizite des Minderjährigen begründeten massiven schulischen Probleme in Spanien laufend zu Auseinandersetzungen zwischen dem Minderjährigen und seiner Mutter kam, anlässlich welcher sich Mutter und Sohn gegenseitig „schubsten", die Mutter dem Minderjährigen mehrmals Ohrfeigen versetzte (vgl zur Berücksichtigung von Verstößen gegen das Gewaltverbot bei der Obsorgeentscheidung RIS-Justiz RS0047973) und einmal sogar die Polizei rief.

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