European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2008:0010OB00069.08S.0916.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung
Die Kläger begehrten die Feststellung, dass die Grenze zwischen ihrem Grundstück und jenem der Beklagten entlang einer bestimmten Linie verlaufe. Sie beantragten unter anderem die Einvernahme eines 1923 geborenen Zeugen. Dieser übermittelte die Bestätigung seines Hausarztes, wonach er nicht vernehmungsfähig sei, weil er an einem therapiepflichtigen Hypertonus leide, der unter psychischer und physischer Belastung lebensbedrohliche Hochdruckkrisen bewirken könne. Der Klagevertreter beantragte nach Erörterung dieser ärztlichen Bestätigung die Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen zum Zwecke dafür, dass die Vernehmungsfähigkeit bzw die Dauer der Vernehmungsfähigkeit des - für das Verfahren relevanten - Zeugen geklärt werde. Diesem Antrag wurde insoweit nicht entsprochen, als das Erstgericht unmittelbar vor dem Schluss der Verhandlung alle unerledigten Beweisanträge wegen geklärter Sach- und Rechtslage abwies. Dies wurde vom Klagevertreter nicht unmittelbar gerügt.
Das Erstgericht wies die Klage ab und begründete das Unterbleiben der beantragten Zeugeneinvernahme damit, dass sich aus der übermittelten ärztlichen Bestätigung die Vernehmungsunfähigkeit des Zeugen ergeben habe. Darüber hinaus wäre die Einvernahme des Zeugen auch deshalb nicht notwendig gewesen, weil dessen (vom Erstgericht vernommener) Sohn die Liegenschaft mehr als 20 Jahre lang selbst bewirtschaftet habe, sodass dieser ausführlich über die Waldnutzung habe Auskunft geben können. Eine Nutzung auf der oberen Seite des Forstwegs habe durch die Familie des Zeugen nie stattgefunden und sei der diesbezügliche Grund von ihr nie beansprucht worden. Selbst wenn man annähme, dass der Zeuge oder dessen Sohn dem Erstkläger die Grenze „in einer Geraden" geschildert hätte, so hätte das auf die tatsächlich bestehende Grenze in der Mitte des Forstwegs, auf die sich die Beklagten zu Recht berufen würden, keinen Einfluss.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 4.000 EUR, nicht aber 20.000 EUR übersteige. Die ordentliche Revision wurde nachträglich zugelassen. Zur Mängelrüge der Kläger - wegen der nicht erfolgten Einvernahme des von diesen als erhebliches Beweismittel eingestuften Zeugen und wegen der unterbliebenen Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen zur Frage der Vernehmungsfähigkeit des Zeugen - führte das Berufungsgericht aus, dass sich die Kläger in erster Instanz ohne Rüge nach § 196 Abs 1 ZPO in die weitere Verhandlung eingelassen hätten, indem sie Kostennote gelegt und damit die Zurückweisung des Beweisanbots und den bevorstehenden Schluss der Verhandlung widerspruchslos hingenommen hätten. Die erst in der Berufung nachgeholte Rüge der unterlassenen Einvernahme des Zeugen im Sinne des § 196 Abs 1 ZPO sei verspätet, sodass die Geltendmachung dieses Verfahrensmangels verfristet sei und auf die Frage, ob das Erstgericht von der Einvernahme dieses Zeugen berechtigt Abstand genommen habe, gemäß § 462 Abs 2 ZPO nicht mehr einzugehen sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Kläger ist zulässig und berechtigt.
1. Nicht revisible Verfahrensmängel wie behauptete Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die vom Berufungsgericht als solche verneint worden sind, können auch nicht mit einer Grundsatzrevision geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0106371). Dieser Grundsatz ist aber unanwendbar, wenn das Berufungsgericht infolge einer unrichtigen Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen hat; hier liegt bereits ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor, der gemäß § 503 Z 2 ZPO bekämpfbar ist (RIS‑Justiz RS0043086; Zechner in Fasching/Konecny2 § 503 ZPO Rz 36 mwN).
2. Im vorliegenden Fall vermeinte das Berufungsgericht, dass es infolge Verfristung der Geltendmachung des behaupteten Verfahrensmangels auf die Frage, ob das Erstgericht von der Einvernahme des Zeugen berechtigt Abstand genommen habe, nicht einzugehen brauche. Indes kann von einer Verfristung der Geltendmachung des (allfälligen) Verfahrensmangels nicht die Rede sein:
Mängel, die die Sammlung des Prozessstoffs betreffen, bedürfen keiner Rüge im Sinne des § 196 Abs 1 ZPO, um mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden zu können (RIS‑Justiz RS0037041). Zu den Stoffsammlungsmängeln zählen unter anderem die Nichtzulassung und die (zu Unrecht verfügte) Präklusion von Beweisen (Pochmarski/Lichtenberg, Die Berufung in der Zivilprozessordnung, 80). Die Rügepflicht betrifft nur jene Teile der auf die Verfahrensführung durch das Gericht Bezug habenden Vorschriften, die deren äußere Form oder Durchführung behandeln. Keine Rügepflicht iSd § 196 ZPO gilt hingegen für Prozesshandlungen oder Unterlassungen, die unmittelbar oder mittelbar den materiellen Inhalt der zu treffenden Entscheidung, die Sammlung des Prozessstoffs, betreffen (Schragel in Fasching/Konecny2 § 196 ZPO Rz 1 mwN).
Die in der Berufung der Kläger erfolgte Geltendmachung des in der unterbliebenen Einvernahme bzw näheren Prüfung der Vernehmungsfähigkeit des Zeugen - allenfalls - liegenden Mangels des erstgerichtlichen Verfahrens war daher mangels Rügepflicht im Sinne des § 196 ZPO nicht verfristet. Das Berufungsgericht hat in Wahrheit diese Mängelrüge nicht erledigt. Es wird sich daher im weiteren Verfahren inhaltlich mit der Mängelrüge auseinanderzusetzen haben. Zu diesem Zweck ist die Entscheidung des Berufungsgerichts aufzuheben und diesem die neuerliche Entscheidung aufzutragen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
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