OGH 13Os42/08p

OGH13Os42/08p11.6.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Juni 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Just als Schriftführerin in der Strafsache gegen Marian A***** wegen des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall SMG aF und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 11. Dezember 2007, GZ 15 Hv 149/07z-31, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in den Schuldsprüchen I bis III sowie demzufolge auch im Strafausspruch aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Landesgericht St. Pölten verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem auch einen Teilfreispruch enthaltenden angefochtenen Urteil wurde Marian A***** des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall, Abs 3 erster Fall SMG aF und des Vergehens nach § 27 Abs 1 sechster Fall, Abs 2 Z 2 SMG aF (I.), des Vergehens nach § 27 Abs 1 sechster Fall SMG aF (II.) und der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SM G aF (III.) schuldig erkannt.

Danach hat er

I) „in Herzogenburg, St. Pölten, Wien und anderen Orten den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift in einer großen Menge gewerbsmäßig in Verkehr gesetzt, und zwar zumindest 120 Gramm Speed, dessen reine Wirkstoffmenge Amphetamin 12 Gramm beträgt, und 3 Gramm Cannabiskraut, indem er das Suchtgift an nachstehende Suchtgiftkonsumenten verkaufte", nämlich

a) im Zeitraum April 2004 bis November 2006 an Werner S***** 120 Gramm Speed und

b) im September 2005 an Veysel T***** zumindest 3 Gramm Cannabiskraut;

II) den bestehenden Vorschriften zuwider im Jänner 2007 Melanie R***** und Veysel T***** Suchtgift, nämlich je einen „Joint" unentgeltlich überlassen;

III) den bestehenden Vorschriften zuwider nach dem 25. August 2005 bis 9. März 2007 über die zu Punkt I genannten Mengen hinaus Heroin und Cannabis erworben und bis zum Eigenkonsum bzw bis zur Überlassung an die unter Punkt II genannten Personen besessen.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen vom Angeklagten aus Z 5a und der Sache nach auch aus Z 5 des § 281 Abs 1 StPO ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde kommt Berechtigung zu.

Zwar vermag das spekulative Vorbringen, der Zeuge S***** habe bei seiner Vernehmung im Vorverfahren allenfalls nur deshalb einen Namen genannt, um vor der Polizei „besser dazustehen", keine sich aus den Akten ergebenden erheblichen Bedenken des Obersten Gerichtshofs gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde liegenden entscheidenden Tatsachen zu wecken.

Zutreffend zeigt jedoch die Mängelrüge (inhaltlich Z 5 vierter Fall) auf, dass die für die Annahme einer großen Menge Suchtgift (§ 28 Abs 6 SMG aF) und damit für die vorgenommene Subsumtion der Tat entscheidenden Feststellungen offenbar unzureichend begründet sind. Die Tatrichter haben ihre Konstatierungen, wonach der Angeklagte 120 Gramm Speed mit einer Wirkstoffmenge von 12 Gramm Amphetamin verkauft habe, „auf die unbedenkliche und glaubwürdige Aussage des Zeugen S***** in der Hauptverhandlung", dass es sich bei den vom Angeklagten erworbenen Speed um eine mittlere Qualität gehandelt habe, und „auf die gerichtsnotorische Erfahrung bei Amphetamin in durchschnittlicher Straßenqualität von zumindest 10 %" gestützt (US 11).

Der Angeklagte hat jedoch ein aus dem fair-trial-Gebot des Art 6 MRK erfließendes Recht darauf, nicht von einer ihm unbekannten Gerichtsnotorietät im Tatsachenbereich überrascht zu werden. Auch das, was gerichtskundig ist, muss in der Hauptverhandlung vorkommen, um zur Grundlage von Feststellungen werden zu können. Die Erwähnung eines gerichtskundigen Umstandes in der Anklagebegründung - wie hier - reicht dazu nicht aus. Im Sinn eines den Garantien des Art 6 MRK entsprechenden Verfahrens ist vielmehr das erkennende Gericht verpflichtet, den Angeklagten in der Hauptverhandlung über das, was es als gerichtsnotorisch und im jeweils gegebenen Fall erheblich ansieht, in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zu geben, seine Verteidigung danach einrichten zu können.

Haben aber die Tatrichter die Feststellung einer durchschnittlichen Wirkstoffkonzentration wie hier auf eine von ihnen angenommene Gerichtsnotorietät gestützt, über die der Angeklagte nicht wie beschrieben informiert wurde, ist die solcherart getroffene Konstatierung des Wirkstoffgehalts der tatverfangenen Suchtgiftmenge offenbar unzureichend begründet (vgl RIS-Justiz RS0119094; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 463).

Der aufgezeigte Begründungsmangel zwingt - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - zur Aufhebung des Urteils bereits bei nichtöffentlicher Beratung (§ 285e StPO), zur Anordnung einer neuen Hauptverhandlung und zur Verweisung der Sache an das Erstgericht.

Die Kassation des gesamten Schuldspruchs I (also auch in Ansehung des Vergehens nach § 27 Abs 1 sechster Fall, Abs 2 Z 2 SMG aF) war deshalb erforderlich, weil nach Aufhebung eines Schuldspruchs nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG aF bei Fraglichkeit der Beurteilung einer in Verkehr gesetzten Menge als groß (§ 28 Abs 6 SMG aF) auch jene Annahmen, die einen Schuldspruch wegen § 27 Abs 1 sechster Fall SMG allenfalls zu tragen vermögen, für sich alleine nicht bestehen bleiben (RIS-Justiz RS0115884).

Gemäß § 289 StPO war mit Blick auf § 35 iVm § 37 SMG auch hinsichtlich des Schuldspruchs II und III mit Urteilsaufhebung und Anordnung einer neuen Hauptverhandlung vorzugehen.

Die weitere Mängelrüge und die Tatsachenrüge (Z 5a) können damit auf sich beruhen.

Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.

Da der gesamte Schuldspruch und damit auch der vom Erstgericht gefällte Kostenersatzausspruch nach § 389 StPO zu kassieren war, fallen dem Angeklagten auch keine Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Stichworte