OGH 9Ob54/06s

OGH9Ob54/06s7.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Nda E*****, der mj. Eyah E*****, des mj. Abdella E***** und der mj. Jasim E***** infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Tarek E*****, vertreten durch Mag. Nikolaus Vasak, Rechtsanwalt in Wien gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 8. März 2006, GZ 43 R 70/06x-S19, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 12. Jänner 2006, GZ 1 P 98/02y-S7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden, soweit sie den mj. Abdella betreffen, aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Mit - pflegschaftsgerichtlich genehmigten - Scheidungsvergleich vom 13. 5. 2002 vereinbarten die Eltern, dass die Obsorge für Nda, Eyah und Abdella dem Vater zukommt, jene für Jasim der Mutter. Die Mutter beantragte, ihr die Obsorge für Nda, Eyah und Abdella zu übertragen; der Vater sprach sich ausdrücklich gegen eine Übertragung der Obsorge aus.

Das Erstgericht entzog dem Vater die Obsorge für Nda und Eyah und übertrug sie auf die Mutter. Ihrem Antrag, ihr auch die Obsorge für Abdella zu übertragen, wies es jedoch ab. Dabei ging es von folgenden Feststellungen aus:

Nach der Scheidung der Eltern im Jahr 2002 kam es zu mehreren Streitigkeiten zwischen Nda und ihrem Vater, sodass sie im Krisenzentrum untergebracht werden musste. Seit Oktober 2003 leben die Mutter und Jasim wieder im Haushalt des Vaters. Mitte November 2003 unternahm Nda einen Selbstmordversuch. Ihre beiden Geschwister Eyah und Abdella wurden ebenfalls kurz danach im Krisenzentrum aufgenommen, weil der Verdacht bestand, dass der Vater die Minderjährigen psychisch und physisch misshandelte. Abdella ist in der Schule gewaltbereit, verbal aggressiv und hat ein Autoritätsproblem mit Frauen. Die Mutter versorgt den Haushalt; der Vater ist berufstätig. Um die schulischen Agenden für Nda, Eyah und Abdella kümmert sich der Vater, während jene für Jasim die Mutter wahr nimmt. Die Mutter möchte sich wieder vom Vater trennen. Alle Minderjährigen äußerten, bei der Mutter bleiben zu wollen, wobei hinsichtlich Abdella Befürchtungen bestehen, dass sie sich ihm gegenüber nicht ausreichend durchsetzen wird können. Rechtlich meinte das Erstgericht, die Obsorge für Abdella könne wegen seiner Probleme mit weiblichen Autoritätspersonen besser vom Vater ausgeübt werden. Dass er sich für den Verbleib bei der Mutter ausspreche, sei offenbar vor allem darauf zurückzuführen, dass er sich bei ihr einen weniger strengen Erziehungsstil erhoffe.

Das Rekursgericht änderte die Entscheidung des Erstgerichts dahin ab, dass es der Mutter auch die Obsorge für Abdella übertrug; den Revisionsrekurs erklärte es für nicht zulässig. Rechtlich führte das Rekursgericht dazu aus, dass Geschwister tunlichst nicht zu trennen und die Umstände bei dem einen Elternteil denen beim anderen Elternteil gegenüberzustellen seien. Die aufgezeigten Durchsetzungsprobleme gegenüber Abdella hätten bereits zu einem Zeitpunkt bestanden, als noch der Vater mit der Obsorge betraut war. Die Mutter habe bei der Betreuung des Minderjährigen die Unterstützung der älteren Geschwister, weshalb eine Trennung der Geschwister nicht von Vorteil sei.

Rechtliche Beurteilung

Der (außerordentliche) Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.

Dem Vater steht auf Grund eines pflegschaftsgerichtlich genehmigten gerichtlichen Vergleichs die Obsorge für Abdella zu. Die einem Elternteil zuerkannten rein persönlichen Rechte aus dem Eltern- und Kindschaftsverhältnis dürfen grundsätzlich nur dann auf den anderen Elternteil übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs. 1 ABGB vorliegen; es muss eine Gefährdung des Kindeswohls gegeben sein (1 Ob 647/89).

Nach § 176b ABGB darf das Gericht durch eine Verfügung nach den §§ 176 und 176a ABGB die Obsorge nur soweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes nötig ist. Die Obsorge soll so lange gewahrt bleiben, als sich dies mit dem Kindeswohl verträgt. (Schwimann in Schwimann, ABGB2, Rz 2 § 176b). Ist die Obsorge einmal einem Elternteil allein übertragen worden, so ist eine Änderung dieser Regelung im Interesse der Erziehungskontinuität nur bei Gefährdung des Kindeswohls oder bei Vorliegen besonders wichtiger Gründe zulässig (vgl nur Hopf in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB, § 177-177a Rz 9). Ein Wechsel aus wichtigem Grund ist nur dann vorzunehmen, wenn besondere Umstände dafür sprechen, dass die durch die Persönlichkeit, den Charakter, die pädagogischen Fähigkeiten und die wirtschaftlichen Verhältnisse des in Erwägung gezogenen neuen Obsorgeberechtigten dem Kind eröffneten neuen Möglichkeiten aller Voraussicht nach zu einer beachtlichen Verbesserung seiner Lage und seiner Zukunftserwartungen führen werden (6 Ob 505/91). Aus dem Akteninhalt ergibt sich weder eine konkrete Gefährdung von Abdella durch den Vater, noch können die maßgeblichen Umstände (z.B. wirtschaftliche Verhältnisse, persönliches Umfeld, Wohnsituation der Eltern, Möglichkeit eines Kontakts zu den Geschwistern im Fall der Trennung der Kinder) exakt beurteilt werden.

Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob es insgesamt dem Wohl des Kindes entspricht auch nach dem Auszug der Mutter und der Geschwister aus dem Familienverband beim Vater zu verbleiben bzw. ob mehr für eine Obsorge durch die Mutter spricht. Dabei wird die Tatsache, dass die Eltern nach der Scheidung nur knapp eineinhalb Jahre getrennt lebten und die Mutter mit allen Kindern bis zur Antragstellung im August 2005 wieder etwa zwei Jahre im väterlichen Haushalt wohnte und die Familie versorgte, mitzuberücksichtigen sein. Der bloße Umstand, dass dem Vater die Obsorge (formell) allein zustand, könnte hier durchaus in den Hintergrund treten. Entgegen der Auffassung des Rekursgerichts reichen die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen nicht aus, um eindeutig bejahen zu können, dass dem Kindeswohl durch die Obsorgeübertragung auf die Mutter besser entsprochen würde. Ebensowenig ist die Obsorgefrage beim derzeitigen Verfahrensstand klar zu Gunsten des Vaters zu entscheiden, zumal nicht geprüft wurde, welche Nachteile das Kind durch die Trennung von der Mehrzahl seiner bisherigen haushaltszugehörigen Familienmitglieder erleiden würde.

Stichworte