OGH 10ObS46/06x

OGH10ObS46/06x28.3.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Vyziblo (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj Silvia H*****, vertreten durch ihren Vater Sven H*****, beide D-*****, dieser vertreten durch Dr. Walter Riedl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Land Salzburg, 5010 Salzburg, Fanny-von-Lehnert-Straße 1, vertreten durch Dr. Franz Gerald Hitzenbichler und Dr. Bernhard Zettl, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen Pflegegeld, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. Juli 2002, GZ 12 Rs 112/02f-10, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. Dezember 2001, GZ 11 Cgs 106/01x-6, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2006:010OBS00046.06X.0328.000

 

Spruch:

1. Das am 27. Mai 2003 gemäß § 90a GOG ausgesetzte Rechtsmittelverfahren wird von Amts wegen wieder aufgenommen.

2. Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten der klagenden Partei im Rekursverfahren einschließlich der Kosten ihrer Beteiligung am Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sind weitere Verfahrenskosten.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Rekursbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

Die am 22. 9. 1997 geborene Klägerin, eine deutsche Staatsangehörige, ist schwer körperbehindert. Sie wohnt gemeinsam mit ihren Eltern, die ebenfalls deutsche Staatsangehörige sind, in Deutschland nahe der österreichischen Grenze. Die Mutter der Klägerin unterlag bis zum Ende ihres dreijährigen Erziehungsurlaubes am 21. 9. 2000 der deutschen Pflegeversicherung und bezog demnach für ihre behinderte Tochter Pflegegeld. Diese Geldleistung wurde mit dem Hinweis eingestellt, dass sie nur gewährt werden könne, so lange in Deutschland eine Pflegeversicherung bestehe. Die Mutter der Klägerin geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach. Der Vater der Klägerin ist Grenzgänger und in Österreich als Pflichtschullehrer im Land Salzburg beschäftigt. Er unterliegt in Österreich, wo er auch krankenversichert ist, der Steuer- und Sozialversicherungspflicht. Die Klägerin ist als Angehörige ihres Vaters in Österreich krankenversichert.

Mit Bescheid vom 14. 5. 2001 lehnte die beklagte Partei den am 7. 12. 2000 für die Klägerin gestellten Antrag auf Zuerkennung des Pflegegeldes nach dem Salzburger Pflegegeldgesetz (SPGG) mit der Begründung ab, dass gemäß § 3 Abs 1 Z 2 SPGG der Hauptwohnsitz der pflegebedürftigen Person im Bundesland Salzburg unabdingbare Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld durch das Land Salzburg sei.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß ab 7. 12. 2000 im Wesentlichen mit der Begründung, dass die in § 3 Abs 1 Z 2 SPGG enthaltene Wohnortklausel gegen die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 verstoße.

Das Erstgericht wies das Begehren der Klägerin ab, weil diese ihren Hauptwohnsitz nicht im Bundesland Salzburg habe. Das Salzburger Landespflegegeld stelle im Falle der Klägerin eine beitragsunabhängige Sonderleistung dar, welche nicht unter die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 falle und daher auch nicht exportiert werden müsse.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das Ersturteil auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Nach seinen Rechtsausführungen handle es sich auch beim Salzburger Landespflegegeld um eine Leistung bei Krankheit iSd Art 4 Abs 1 lit a der VO 1408/71 und es sei daher diese Geldleistung nach denselben Grundsätzen wie das Bundespflegegeld zu exportieren. Die Klägerin sei als Angehörige ihres in Österreich pflichtversicherten Vaters der österreichischen Krankenversicherung leistungszugehörig und habe daher gegenüber dem zuständigen österreichischen Sozialversicherungsträger Anspruch auf alle Geldleistungen aus dem Versicherungsfall der Krankheit. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte als zuständiger Pflegegeldträger das Landespflegegeld als Geldleistung bei Krankheit zu zahlen. Aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Art 19 Abs 1 und 2 der VO 1408/71 sei die Wohnsitzklausel des § 3 Abs 1 Z 2 SPGG unbeachtlich. Da der vom Erstgericht herangezogene Abweisungsgrund somit nicht tragend sei, werde im fortzusetzenden Verfahren das Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sein.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs (richtig: Rekurs) der Beklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung - nach Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH - im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung (richtig: Rekursbeantwortung) mit dem Antrag, das Rechtsmittel zurückzuweisen bzw ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist gemäß der hier noch anwendbaren Bestimmungen der §§ 45 bis 47 ASGG vor ihrer Aufhebung durch Art III Z 6 ZVN 2002, BGBl I 2002/76, iSd § 45 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des § 46 Abs 1 ASGG zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

Die Rekurswerberin macht in ihrem Rechtsmittel weiterhin geltend, dass es sich beim Salzburger Pflegegeld um eine beitragsunabhängige Sonderleistung iSd Art 4 Abs 2b der VO 1408/71 handle, welche daher nicht exportiert werden müsse.

Da die vorliegende Rechtssache verschiedene gemeinschaftsrechtliche Fragen berührt, hat der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 27. 5. 2003 das Rechtsmittelverfahren gemäß § 90a GOG ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Mit Urteil vom 21. 2. 2006, Rs C-286/03 hat der EuGH auf die beiden ersten vom Obersten Gerichtshof vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

„1. Ein Pflegegeld wie das nach dem Salzburger Pflegegeldgesetz vorgesehene stellt keine beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sondern eine Leistung bei Krankheit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 a der Verordnung dar.

2. Der Familienangehörige eines im Bundesland Salzburg beschäftigten Arbeitnehmers, der mit seiner Familie in Deutschland wohnt, kann vom zuständigen Träger seines Beschäftigungsortes die Zahlung eines Pflegegeldes wie des nach dem Salzburger Pflegegeldgesetz vorgesehenen als einer Geldleistung bei Krankheit gemäß Artikel 19 der Verordnung 1408/71 verlangen, wenn er die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, sofern er nicht nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem er wohnt, Anspruch auf eine gleichartige Leistung hat.“

Nach Vorliegen dieses Urteils ist das ausgesetzte Rechtsmittelverfahren von Amts wegen wieder aufzunehmen. Der Oberste Gerichtshof hat im Sinne der bindenden Rechtsansicht des EuGH davon auszugehen, dass die österreichische Rechtslage, nach der die Leistung von Pflegegeld nach dem SPGG vom Vorliegen des Hauptwohnsitzes im Land Salzburg abhängig ist, dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Aufgrund des Anwendungsvorranges dieses Rechts ist diese in § 3 Abs 1 Z 2 SPGG für den Anspruch auf Pflegegeld vorgesehene Voraussetzung unbeachtlich.

Das Erstgericht hat das Klagebegehren ausschließlich deshalb abgewiesen, weil die Klägerin ihren Hauptwohnsitz nicht im Bundesland Salzburg hat. Da dieser Abweisungsgrund nicht tragend ist, das Vorliegen der anderen gesetzlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung bisher aber nicht geprüft wurde und das Vorliegen dieser weiteren Voraussetzungen auch nicht außer Streit gestellt wurde, erweist sich die vom Berufungsgericht vorgenommene Aufhebung des Ersturteiles und die Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung als notwendig.

Der Kostenvorbehalt hinsichtlich von der Klägerin für das Rechtsmittelverfahren und das Verfahren vor dem EuGH verzeichneten Kosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat als Versicherungsträger (Pflegegeldträger) die Kosten ohne Rücksicht auf den Verfahrensausgang jedenfalls selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG).

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