OGH 15Os42/05y

OGH15Os42/05y2.6.2005

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. Juni 2005 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker, Dr. Zehetner, Dr. Danek und Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fuchsloch als Schriftführer, in der Strafsache gegen Tadeusz O***** wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB über die vom Generalprokurator gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 3. November 2004, GZ 1 U 109/97a-10, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Mag. Fuchs, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Strafverfahren zum AZ 1 U 109/97a des Bezirksgerichtes Innsbruck verletzen:

(1) die Zustellung der Vorladung zur Hauptverhandlung, des Antrages auf Bestrafung und des Abwesenheitsurteiles samt Rechtsmittelbelehrung in deutscher Sprache ohne Anschluss einer Übersetzung zumindest der wesentlichen Passagen in die polnische Sprache Art 52 Abs 2 SDÜ;

(2) die Verhandlung und Urteilsfällung am 3. November 2004 in Abwesenheit des Beschuldigten § 459 StPO;

(3) die Verhandlung und Urteilsfällung am 3. November 2004 in Abwesenheit eines Vertreters der öffentlichen Anklage §§ 31 zweiter Satz und 457 StPO;

(4) die Anführung eines Vertreters der öffentlichen Anklage im Protokoll über die Hauptverhandlung als anwesend §§ 458 Abs 5, 271 Abs 1 StPO idF vor der Strafprozessnovelle 2005;

(5) die Verlesung der Aussage des Zeugen Heinz W***** in der in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführten Hauptverhandlung vom 3. November 2004 §§ 458 Abs 5, 252 Abs 1 StPO.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 3. November 2004, GZ 1 U 109/97a-10, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Antrag auf Bestrafung vom 2. April 1997 legte der Bezirksanwalt beim Bezirksgericht Innsbruck dem polnischen Staatsangehörigen Tadeusz O***** das am 25. März 1997 begangene Vergehen des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zur Last (GZ 1 U 109/97a-3 des Bezirksgerichtes Innsbruck). Wegen unbekannten Aufenthaltes des Beschuldigten brach das Gericht mit Beschluss vom 4. April 1997 das Strafverfahren gemäß § 452 Z 2 StPO ab und ordnete die Ausschreibung des Genannten zur Aufenthaltsermittlung an (S 1).

Nachdem Tadeusz O***** zwei Mal von der Gendarmeriegrenzkontrollstelle Hohenau an der March betreten worden war und seine Wohnanschrift in Polen bekannt gegeben hatte (ON 6 und 8), beraumte das Bezirksgericht Innsbruck am 24. September 2004 die Hauptverhandlung für den 3. November 2004 an und ließ dem Beschuldigten die Vorladung und den Antrag auf Bestrafung in deutscher Sprache durch die Post in Polen zustellen (S 2). Am 15. Oktober 2004 erklärte eine namentlich nicht bekannte Cousine des Beschuldigten telefonisch gegenüber dem Bezirksgericht Innsbruck, dass dieser zur Hauptverhandlung nicht kommen werde, weil er sich die Anreise nicht leisten könne (S 2).

Am 3. November 2004 führte der Richter des Bezirksgerichtes die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten durch. Obwohl kein Vertreter der öffentlichen Anklage an der Hauptverhandlung teilnahm, wurde im Protokoll Bezirksanwalt Erich K***** als anwesend geführt. Das Beweisverfahren erschöpfte sich in der Verlesung der Anzeige ON 2, in welcher ua die Angaben des Zeugen Heinz W***** gegenüber den erhebenden Polizeibeamten wiedergegeben sind (ON 9). Mit dem in Abwesenheit des Beschuldigten gefällten Urteil vom 3. November 2004 wurde Tadeusz O***** des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 2 Euro verurteilt, die gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine Probezeit von einem Jahr bedingt nachgesehen wurde.

Die Urteilsausfertigung samt Rechtsmittelbelehrung in deutscher Sprache ließ das Bezirksgericht dem Beschuldigten in Polen durch die Post zustellen (ON 10 iVm S 2 unten).

Rechtliche Beurteilung

Wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht das Vorgehen des Bezirksgerichtes in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

(1) Gemäß Art 52 Abs 1 erster Satz SDÜ - der seit dem 1. Mai 2004 auch im Verhältnis zu Polen anwendbar ist (s den Erlass des BMJ vom 24. Jänner 2005, GZ BMJ-L884.012/0001-II 2/2005) - kann jede Vertragspartei Personen, die sich im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, gerichtliche Urkunden unmittelbar durch die Post übersenden. Nach Abs 2 erster Satz leg cit ist die Urkunde - oder zumindest die wesentlichen Passagen - in die Sprache oder in eine der Sprachen der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet sich der Empfänger aufhält, zu übersetzen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Zustellempfänger der Sprache, in der die Urkunde abgefasst ist, unkundig ist.

Vorliegend waren Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Tadeusz O***** der deutschen Sprache nicht hinlänglich mächtig ist, um die ihm übermittelten Urkunden zu verstehen und seine Verteidigung entsprechend einzurichten. So hatte die Polizei mit ihm zum Tatvorwurf keine Niederschrift mit der Begründung aufgenommen, dass er nur sehr gebrochen Deutsch spricht und somit Verständigungsschwierigkeiten bestanden (S 13). Der fremdenpolizeilichen Vernehmung des Genannten wurde eine Dolmetscherin beigezogen (S 19). Auch der Bezirksanwalt beantragte die Beiziehung eines Dolmetschers zur Hauptverhandlung (S 1). Das Fernbleiben des Beschuldigten von dieser wurde nicht von ihm selbst, sondern von seiner Cousine telefonisch angekündigt (S 2). Das Bezirksgericht hätte daher dem Beschuldigten Übersetzungen zumindest der wesentlichen Passagen der zuzustellenden Urkunden in polnische Sprache übermitteln müssen.

(2) Das aus den Bestimmungen der §§ 455 Abs 1, 478 Abs 1 StPO ableitbare uneingeschränkt wirksame Recht des Beschuldigten auf Teilnahme an der Hauptverhandlung kann grundsätzlich durch Ungehorsam gegen die gerichtliche Vorladung verwirklicht werden. Weil die Ladung des Beschuldigten mangels deren Übersetzung in die polnische Sprache (vgl Punkt 1) nicht gehörig war, sodass sich die weitere Frage der Ungehorsamsfolgen gar nicht stellte, hätte der Richter weder die Hauptverhandlung in Abwesenheit durchführen noch ein Abwesenheitsurteil fällen dürfen (vgl 15 Os 52/03).

(3) Gemäß § 31 zweiter Satz StPO ist der Staatsanwalt befugt, sich auch an den vor die Bezirksgerichte gehörigen Verhandlungen persönlich oder durch einen Stellvertreter zu beteiligen. Eine Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht wegen eines Offizialdeliktes darf daher ohne einen Vertreter der öffentlichen Anklage nicht durchgeführt werden (SSt 61/123).

Das Bezirksgericht hätte demnach in Abwesenheit eines Vertreters des Staatsanwaltes die Hauptverhandlung nicht durchführen und das Urteil nicht fällen dürfen.

(4) Nach der Bestimmung des § 271 Abs 1 StPO aF (übrigens auch idF nach der Strafprozessnovelle 2005) ist über die Hauptverhandlung ein Protokoll aufzunehmen, das ua die Namen der Parteien und ihrer Vertreter zu enthalten hat. Bei diesen Angaben handelt es sich um einen notwendigen Inhalt des Protokolls, welches der sicheren Dokumentation der Urteilsgrundlage dient (Fabrizy StPO9 ErgH 2005 § 271 Rz 1).

Die Anführung des Namens eines Vertreters des öffentlichen Anklägers, der an der Verhandlung gar nicht teilgenommen hat, im Protokoll als anwesend ist daher nicht statthaft.

(5) Nach der Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen ua amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen oder Mitbeschuldigten festgehalten worden sind, bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz aufgezählten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO)verlesen werden.

Um ein solches Schriftstück handelt es sich bei der polizeilichen Anzeige ON 2, soweit darin die Aussage des Zeugen Heinz W***** wiedergegeben wird (S 12). Die Verlesung dieses Teils der Anzeige in der Hauptverhandlung (S 35) war mangels Vorliegens eines der Ausnahmetatbestände des § 252 Abs 1 StPO nicht zulässig, zumal aus dem Nichterscheinen des Beschuldigten zur Hauptverhandlung dessen Einverständnis im Sinne der Z 4 leg cit nicht abgeleitet werden kann (RZ 1999/26 ua, zuletzt 14 Os 114/04).

Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen gereichen, weil sie mit dem prozessualen Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 MRK) im Widerspruch stehen, dem Beschuldigten zum Nachteil, weswegen das Urteil zu beheben und die Verfahrenserneuerung anzuordnen war.

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