OGH 1Ob60/05p

OGH1Ob60/05p10.5.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Nadine L*****, geboren am 17. Dezember 1990, und der mj. Deborah L*****, geboren am 28. April 1993, infolge Revisionsrekurses der Mutter Christine L*****, vertreten durch Dr. Reinhard Rosskopf, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 9. Dezember 2004, GZ 44 R 533/04i-117, womit dem Rekurs der Mutter gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 5. Juli 2004, GZ 1 P 122/03h-79, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit Scheidungsvergleich vom 17. 12. 2001 wurde der Mutter die alleinige Obsorge über die beiden minderjährigen Kinder übertragen und dies auch pflegschaftsbehördlich genehmigt. Am 23. 1. 2003 veranlasste der Jugendwohlfahrtsträger die Unterbringung der Kinder in einem Krisenzentrum, wovon die Mutter nachträglich informiert wurde. Am 28. 1. 2003 beantragte er unter Berufung auf § 215 Abs 1 ABGB die Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung. Er modifizierte seinen Antrag später dahin, dass er mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung bis zur rechtskräftigen Obsorgeentscheidung betraut werden möge, und befürwortete pro futuro die Übertragung der gesamten Obsorge an den Vater.

Die Mutter beantragte die gerichtliche Feststellung, dass die Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers, die Kinder gegen den Willen der obsorgeberechtigten Mutter aus ihrer gewohnten Umgebung zu entfernen, rechtswidrig gewesen sei. Sie brachte vor, die Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers sei ohne ihre Anhörung und ohne ausreichenden Grund gesetzt worden. Der Vater habe bloß die gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten mit den Kindern dazu genützt, diese unter Druck zu setzen und gegen die Mutter Stimmung zu machen, indem er ihnen erzählt habe, dass die Mutter sie nicht liebe und sie umbringen würde, wenn sie dem Gutachter sagten, sie seien lieber beim Vater. Sie trat den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers entgegen und beantragte die Ausfolgung der Kinder.

Am 29. 3. 2004 schlossen die Eltern im Beisein einer Vertreterin des Jugendwohlfahrtsträgers einen gerichtlichen Vergleich, in dem die Obsorge dem Vater übertragen und der Mutter ein Besuchsrecht eingeräumt wurde. Dieser Vergleich wurde am 12. 10. 2004 pflegschaftsgerichtlich genehmigt.

Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzten Maßnahme mit der Begründung ab, dass eine gerichtliche Überprüfung derartiger Maßnahmen nicht zu erfolgen habe. Der Antrag der Mutter, den vom Jugendwohlfahrtsträger gestellten Antrag auf Übertragung der Obsorge abzuweisen, wurde wegen entschiedener Rechtssache zurückgewiesen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig. Durch den rechtskräftig genehmigten Vergleich seien sämtliche divergierende Obsorgeanträge erledigt worden. Die Übertragung der alleinigen Obsorge an den Vater schließe die Zuweisung der Obsorge an die Mutter oder den Jugendwohlfahrtsträger zwingend aus. Der modifizierte Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers - Übertragung der Obsorge bis zur rechtskräftigen Entscheidung - sei ebenfalls endgültig erledigt, sodass der Antrag der Mutter auf Abweisung dieses Antrags zu Recht zurückgewiesen worden sei. Die vom Jugendwohlfahrtsträger nach § 215 Abs 1 ABGB getroffene vorläufige Maßnahme sei im Rahmen der Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers gesetzt worden und daher bis zu einer davon unabhängigen gerichtlichen Entscheidung wirksam. Einer gleichlautenden vorläufigen Maßnahme durch das Gericht habe es nicht bedurft. Das Gericht habe eine solche Maßnahme auch nicht zu genehmigen, sondern selbständig eine endgültige Entscheidung zu treffen oder eine andere Maßnahme anzuordnen. An die Stelle der Prüfung der Berechtigung der Maßnahmen der Jugendwohlfahrtsträger durch das Gericht trete deren Verpflichtung, binnen 8 Tagen die Entscheidung des Gerichts zu beantragen, sodass es Sache des Gerichts sei, die Umstände möglichst rasch zu ermitteln.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts, an den der Oberste Gerichtshof gemäß § 16 Abs 3 AußStrG 1854 nicht gebunden ist, ist der Revisionsrekurs nicht zulässig. Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG 1854 ist nicht zu beantworten.

Unbestrittene Voraussetzung für eine vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers - sowie auch eine Maßnahme des Gerichtes nach § 176 ABGB - ist die offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit einer Änderung des bestehenden Zustandes (RIS-Justiz RS0085168). Wird der Jugendwohlfahrtsträger im Rahmen seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 ABGB tätig, weil er eine solche Gefährdung annimmt, so ist er berechtigt und verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung als Sachwalter vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls aber binnen 8 Tagen, die gerichtlichen Verfügungen beantragt.

Dem Gericht obliegt es dann, rasche Nachforschungen anzustellen, um entscheiden zu können, ob diese Maßnahmen bis zu einer endgültigen Entscheidung (vgl etwa 2 Ob 9/98g = EFSlg 87.117; 1 Ob 70/04g ua) aufrecht bleiben, sofern es diese für gerechtfertigt hält. Andernfalls, also wenn das Pflegschaftsgericht keine Gefährdung oder keine Rechtfertigung der Maßnahme annimmt, hat es die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnamen durch gerichtliche Verfügung abzuändern. Für eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers oder deckungsgleiche eigene Maßnahmen nach § 176 ABGB ist hingegen kein Raum (RIS-Justiz RS0007018).

Die Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit kann dem Gesetz nicht entnommen werden. Die Revisionsrekurswerberin übersieht, dass sehr wohl eine gerichtliche Kontrolle der durch den Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen besteht. Das Gericht hat es jederzeit in der Hand, die Maßnahmen abzuändern oder zu beenden. Bis dahin bleibt die vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers aufrecht und wirksam. Sobald das Pflegschaftsgericht ausreichende Entscheidungsgrundlagen gewonnen hat, um beurteilen zu können, dass die Maßnahme unrichtig war, hat es unverzüglich eine gegenteilige Verfügung zu treffen. Für eine feststellende Entscheidung, die im Übrigen nie früher ergehen könnte, bleibt weder Raum, noch ist ein Bedürfnis danach erkennbar; keinesfalls könnte damit ein Beschleunigungseffekt erzielt werden.

Da - wie das Rekursgericht bereits richtig ausgeführt hat - mit dem rechtskräftig pflegschaftsgerichtlich genehmigten Vergleich - auf das Motiv der Mutter bei dessen Abschluss kann es hier nicht ankommen - die Obsorgefrage entschieden ist, war auch eine meritorische Entscheidung über den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, ihm die Obsorge bis zu einer (endgültigen) Zuweisung der Obsorge (an den Vater) zu übertragen, nicht mehr zu fällen.

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