OGH 2Ob270/04a

OGH2Ob270/04a6.12.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Esma B*****, geboren am 2. Februar 1988, infolge der Revisionsrekurse des Jugendwohlfahrtsträgers MA 11-Gruppe Recht, ***** und der Eltern Yakup B***** und Yildiz B*****, beide *****, vertreten durch Ploil Krepp & Partner, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 8. Juli 2004, GZ 48 R 31/03v-57, womit aus Anlass des Rekurses der Eltern der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Feststellung, dass er für die Zeit vom 26. März bis 26. August 2003 gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB iVm § 176 ABGB kraft Gesetzes mit der Obsorge für die mj Esma im Bereich der Pflege und Erziehung betraut gewesen ist, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Den Revisionsrekursen wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte mit Telefax vom 2. 4. 2003, ihn gemäß "§ 215 Abs 1 erster Satz ABGB" mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung der Pflegebefohlenen zu betrauen. Er brachte vor, die gehörlose Pflegebefohlene habe am 26. 3. 2003 berichtet, zu Hause von ihrem Vater und ihrem älteren Bruder geschlagen zu werden. Es sei notwendig, mit Hilfe eines Gebärdendolmetschers zu der Pflegebefohlenen Zugang zu finden und ein Vertrauensverhältnis zu bilden. Die Maßnahme sei am 26. 3. 2003 getroffen worden, die Frist von 8 Tagen gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB sei gewahrt. Die Pflegebefohlene verbrachte 6 Wochen im Krisenzentrum und wurde am 7. 5. 2003 in eine Wohngemeinschaft überstellt. Die Eltern wurden vorläufig nicht über den aktuellen Aufenthaltsort ihrer Tochter informiert. Am 26. 8. 2003 wurde die Pflegebefohlene über ihren Wunsch wieder zu ihren Eltern entlassen.

Mit Eingabe vom 27. 8. 2003 (ON 33) brachte der Jugendwohlfahrtsträger vor, den am 2. 4. 2003 bestellten Antrag dahingehend zu modifizieren, dass festgestellt werde, dass der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB iVm § 176 ABGB für die mj Esma für den Zeitraum vom 26. 3. 2003 bis 26. 8. 2003 kraft Gesetzes (ex lege) mit der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung betraut war.

Mit Beschluss des Erstgerichtes vom 4. 9. 2003 wurde ausgesprochen, dass der Jugendwohlfahrtsträger in diesem Zeitraum mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung betraut war. Das Erstgericht begründete den Beschluss damit, dass im Hinblick auf den Bericht der Pflegebefohlenen von wiederkehrenden Misshandlungen durch die Eltern Gefahr im Verzug für das Kindeswohl bestanden habe und der Jugendwohlfahrtsträger mit seiner Kenntnis von der Gefahrenlage ex lege Sachwalter der Minderjährigen in dem von der Gefahr bedrohten Bereich der Pflege und Erziehung geworden sei.

Das Rekursgericht wies den dagegen erhobenen Rekurs der Eltern mit Beschluss vom 20. 11. 2003 mit der Begründung zurück, es fehle an ihrem Rechtsschutzinteresse, weil der Spruch des Erstgerichtes nur die bereits aktenkundige Tatsache der Obsorgebetrauung des Jugendwohlfahrtsträgers feststelle.

Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 18. 3. 2004, 2 Ob 13/04g, wurde dieser Beschluss aufgehoben und dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Eltern unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

In der Entscheidung wurde ausgeführt, der Beschluss des Erstgerichtes habe keinen (nur) tatsachenfeststellenden Charakter, sondern habe das Erstgericht die Voraussetzungen nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB bejaht. Habe aber der Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB wegen Gefahr im Verzug Maßnahmen im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig getroffen, sei eine mit der vorläufigen wirksamen Verfügung des Jugendwohlfahrtsträgers deckungsgleiche vorläufige Maßnahme des Gerichtes überflüssig. Es sei aber in einem solchen Fall Aufgabe des Gerichtes, seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerung durchzuführen und nach ausreichender Klärung aller maßgeblichen Umstände eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen zu treffen. Einen derartigen Beschluss habe das Erstgericht getroffen, er greife in die Rechtssphäre der Eltern der Pflegebefohlenen ein.

Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss hat das Rekursgericht aus Anlass des Rekurses den angefochtenen Beschluss dahin abgeändert, dass der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, es möge festgestellt werden, dass er für die Zeit vom 26. 3. bis 26. 8. 2003 gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB iVm § 176 ABGB kraft Gesetzes mit der Obsorge für die mj Esma im Bereich der Pflege und Erziehung betraut gewesen ist, zurückgewiesen wurde.

Das Rekursgericht sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig.

In rechtlicher Hinsicht führte das Rekursgericht aus, nach ständiger Rechtsprechung habe das Gericht über einen Antrag gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht ausdrücklich die vom Jugendwohlfahrtsträger angeordneten vorläufigen Maßnahmen zu genehmigen oder deckungsgleiche anzuordnen. Es sei nicht rückwirkend zu entscheiden, eine rückwirkende Anordnung gerichtlicher Maßnahmen und auch die rückwirkende Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung auf den Jugendwohlfahrtsträger stehe im Gegensatz zur oberstgerichtlichen Rechtsprechung und entspreche nicht dem Gesetz (6 Ob 82/00b).

In diesem Sinne seien wohl die "etwas missverständlichen Ausführungen" des Obersten Gerichtshofes im Aufhebungsbeschluss vom 18. 3. 2004 zu verstehen. Der angefochtene Beschluss sei daher dahingehend abzuändern, dass der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf rückwirkende Feststellung der Obsorgebetrauung zurückgewiesen werde.

Gegen diesen Beschluss erhoben der Jugendwohlfahrtsträger und auch die Eltern der Pflegebefohlenen Revisionsrekurs. Der Jugendwohlfahrtsträger beantragt die Abänderung der angefochtenen Entscheidung dahin, dass festgestellt werde, dass er für den Zeitraum vom 26. 3. bis 26. 8. 2003 mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung für die mj Esma betraut war. Die Eltern der Pflegebefohlenen beantragen die Entscheidung dahin abzuändern, dass der Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers abgewiesen werde; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

Die Eltern haben zum Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers auch eine Gegenschrift erstattet, in der sie geltend machen, dass die Ausführungen des Jugendwohlfahrtsträgers zwar insoweit zutreffend seien, als das Rekursgericht eine inhaltliche Entscheidung treffen hätte müssen, doch sei das Feststellungsbegehren unberechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu wurde erwogen:

Wie der erkennende Senat schon in seinem Aufhebungsbeschluss vom 18. 3. 2004, 2 Ob 13/04g, ausgeführt hat, ist dann, wenn der Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB wegen Gefahr im Verzug Maßnahmen im Bereich der Pflege und Erziehung vorläufig getroffen hat, eine mit der vorläufigen wirksamen Verfügung deckungsgleiche vorläufige Maßnahme des Gerichtes überflüssig (RIS-Justiz RS0007018). Eine solche rückwirkende Anordnung, die mit der oberstgerichtlichen Judikatur im Widerspruch steht und nicht dem Gesetz entspricht, liegt hier aber nicht vor. Das Erstgericht hat nicht (rückwirkend) ausgesprochen, der Jugendwohlfahrtsträger werde für die Zeit vom 26. 3. bis 26. 8. 2003 mit der Obsorge für die mj Esma im Bereich der Pflege und Erziehung betraut, es hat vielmehr ausgesprochen, dass der Jugendwohlfahrtsträger in dieser Zeit mit der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung betraut gewesen ist und mit seiner Begründung zum Ausdruck gebracht, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine derartige Maßnahme vorgelegen sind.

Ein derartiger Beschluss ist an sich zulässig, weil die vom Jugendwohlfahrtsträger durchgeführte Trennung der Pflegebefohlenen von den Eltern einen Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darstellt (vgl Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention2, Art 8 Rz 22). In Fällen, in denen durch eine Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers dieses Grundrecht berührt wird, hat der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Einschränkung zu Recht erfolgte (vgl RIS-Justiz RS0071267). Ein derartiges Interesse steht aber nur den in ihren Rechten Beeinträchtigten zu, die Wahrung dieses Interesses ist aber nicht Aufgabe des Jugendwohlfahrtsträgers (vgl SZ 67/230).

Daraus folgt, dass das Rekursgericht zufolge seiner unrichtigen Rechtsansicht allerdings nur im Ergebnis zu Recht den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers zurückgewiesen hat. Den unberechtigten Revisionsrekursen des Jugendwohlfahrtsträgers und der Eltern war deshalb keine Folge zu geben.

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