OGH 15Os177/03 (15Os178/03)

OGH15Os177/03 (15Os178/03)22.4.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. April 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker, Dr. Zehetner, Dr. Danek und Dr. Kirchbacher als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fuchs als Schriftführerin in den Strafsachen gegen Mohamed R***** wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB, AZ 5 U 205/00g des Bezirksgerichtes Villach, und wegen Vergehen nach § 27 Abs 1 SMG und einer anderen strafbaren Handlung, AZ 5 U 292/01b des selben Gerichtes, über die vom Generalprokurator gegen eine Verfügung vom 7. November 2000 im erstgenannten Verfahren sowie Beschlüsse vom 25. November 2002 und vom 10. Februar 2003 und eine Rechtsmittelbelehrung im zweitgenannten Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Fabrizy, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Gesetz wurde verletzt

1. im Verfahren AZ 5 U 205/00g des Bezirksgerichtes Villach durch die Verfügung vom 7. November 2000, die Vorführung des Beschuldigten und eines Zeugen zur Hauptverhandlung zu veranlassen, in den Bestimmungen der §§ 454 und 459 StPO sowie - jeweils iVm § 447 StPO - §§ 221 Abs 1 und 242 Abs 1 StPO;

2. im Verfahren AZ 5 U 292/01b des Bezirksgerichtes Villach

a) durch den Beschluss vom 25. November 2002 (ON 24), mit dem der Protokollberichtigungsantrag vom 11. September 2002 (ON 17) abgewiesen wurde, in der Bestimmung des § 271 Abs 3 StPO;

b) durch die Rechtsmittelbelehrung zum vorgenannten Beschluss in der Bestimmung des § 481 StPO;

c) durch den Beschluss des Vorstehers des Bezirksgerichtes vom 10. Februar 2003 (ON 23), mit dem der Antrag des Beschuldigten auf Ablehnung des Verhandlungsrichters (ON 17) zurückgewiesen wurde, in der Bestimmung des § 72 Abs 1 StPO.

Die unter 2.a) und c) bezeichneten Beschlüsse werden aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Villach sowie dessen Vorsteher aufgetragen, neuerlich über die diesbezüglichen Anträge zu entscheiden.

Text

Gründe:

Im Strafverfahren AZ 5 U 205/00g des Bezirksgerichtes Villach gegen Mohamed R***** wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB ordnete der Richter am 7. November 2000 die Vorführung des Beschuldigten und eines Zeugen zu der für den 21. November 2000 anberaumten Hauptverhandlung an, ohne dass ihnen zuvor eine Vorladung zugestellt wurde (vgl den nicht journalisierten Antrags- und Verfügungsbogen).

In dem gegen Mohamed R***** beim selben Gericht wegen Vergehen nach § 27 Abs 1 SMG und einer anderen strafbaren Handlung geführten Verfahren AZ 5 U 292/01b wurde am 10. September 2002 in Abwesenheit des Beschuldigten eine Hauptverhandlung durchgeführt. Der Zeuge Alexander Sch***** schwächte dabei die den Beschuldigten belastenden Angaben, die er vor der Polizei als Verdächtiger gemacht hatte (S 69 f), ab. Er wollte die Aussage verweigern, weil er sich "ansonsten möglicherweise der Gefahr einer Verleumdung" aussetze, berief sich auf Erinnerungslücken in Ansehung der früheren Aussage und erklärte laut Hauptverhandlungsprotokoll, dass er "bei der Einvernahme heftigst unter Druck gesetzt" worden sei (S 112 f). Dem Protokoll ist zu entnehmen, "dass der Verteidiger sich äußert, dass das Folgen haben werde für den Richter und der Verteidiger den Zeugen auffordert, vor dem Verhandlungssaal zu warten, um einen Aktenvermerk abzufassen" (S 114).

Mit Schriftsatz vom 10. September 2002 brachte Mohamed R***** einen Protokollberichtigungs- und Ablehnungsantrag ein (ON 17). Im Berichtigungsantrag rügte er, dass die Protokollierung bestimmter entlastender Angaben des Zeugen Sch***** entgegen den in der Hauptverhandlung gestellten Anträgen ebenso unterblieben sei wie die eines Ablehnungsantrages des Verteidigers. Das Protokoll gebe unter anderem folgende Aussage des Zeugen nicht wieder:

"Ich wurde von den einschreitenden Polizeibeamten während meiner Einvernahme stark unter Druck gesetzt. Ich musste mich niederknien und wurde mir angedroht, dass ich Schläge mit dem Gummiknüppel erhalte. Die ganze Aussage kam nur unter Anwendung erheblichen psychischen Drucks zustande und habe ich den gesamten Vorgang bereits beim Untersuchungsrichter Dr. Josef T***** zu Protokoll gegeben. Die Aussage wie sie in dieser Form abgefasst wurde, stimmt so nicht."

Der schriftliche Ablehnungsantrag stützte sich auf das Vorbringen, anlässlich der Hauptverhandlung habe sich gezeigt, dass der Verhandlungsrichter nicht bereit sei, Umstände, die von Zeugen vorgebracht werden und die den Beschuldigten entlasten, ins Protokoll aufzunehmen. Der Verhandlungsrichter habe sich zwar in einer Stellungnahme zu einem früheren Ablehnungsantrag als nicht befangen erklärt. Vermisst werde aber in dieser Stellungnahme eine Aussage zum persönlichen Verhältnis des Beschuldigten mit einer "dem Vorsitzenden nahen Person", die dieser nicht zu billigen bereit gewesen sei. Gerade diese Bekanntschaft des Beschuldigten zu einer "nahen Person" stelle aber einen klassischen Befangenheitsgrund des Verhandlungsrichters dar. Diese Bekanntschaft schüre offensichtlich "ein nicht kontrollierbares Hassgefühl" gegen den Beschuldigten. Mit Beschluss vom 25. November 2002 wies der Richter den Protokollberichtigungsantrag ab und erteilte dazu die Rechtsbelehrung, dass dagegen ein Rechtsmittel nicht zulässig sei. Begründet wurde die Entscheidung bloß damit, dass der Zeuge Sch***** bereits von der Bundespolizeidirektion Villach niederschriftlich einvernommen worden sei und "daher nur mehr Abweichungen, Veränderungen oder Zusätze der in den Akten niedergelegten Angaben zu protokollieren" gewesen wären (S 137).

Erst am 6. Februar 2003 (vgl § 183 Geo) wurde der Ablehnungsantrag dem Vorsteher des Bezirksgerichtes vorgelegt (S 135). Der abgelehnte Richter führte in seiner nicht datierten Stellungnahme unter anderem aus, der Verteidiger übersehe, dass in der Hauptverhandlung ohnehin als Aussage des Zeugen protokolliert worden sei: "Ich wurde bei der Einvernahme heftigst unter Druck gesetzt."

Der Verteidiger verwechsle seine zahlreichen Zwischenrufe in der Verhandlung mit der Aussage des Zeugen. Das genannte persönliche Verhältnis betreffe die Stieftochter des Richters. Der Beschuldigte habe mehrfach versucht, mir ihr in Kontakt zu kommen. Der Richter erklärte, sich nicht befangen zu fühlen (ON 22).

Der Gerichtsvorsteher wies den Ablehnungsantrag mit Beschluss vom 10. Februar 2003 zurück, weil "nach der Stellungnahme des Verhandlungsrichters in Verbindung mit einer Stellungnahme zum Ablehnungsantrag vom 25. Juli 2001" die Behauptungen und Vorwürfe des Beschuldigten im neuerlichen Ablehnungsantrag "nicht verifizierbar" und daher objektiv auch keine Umstände erkennbar seien, die es rechtfertigen würden, die Unbefangenheit des Verhandlungsrichters in Zweifel zu ziehen" (ON 23).

In der früheren Stellungnahme bezeichnete der Verhandlungsrichter die (ohne vorherige Ladung verfügte) Vorführung des Beschuldigten zur Hauptverhandlung im Verfahren 5 U 205/00g als erforderlich, weil dieser seit 31. Mai 2000 "unbekannt verzogen war, tatsächlich sich jedoch in 9500 Villach" in einem bestimmten Wohnblock "aufhielt und dort mehrmals gesehen wurde" (ON 4).

Rechtliche Beurteilung

In beiden Verfahren des Bezirksgerichtes Villach wurde, wie die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, das Gesetz mehrfach verletzt.

1. Zum Verfahren AZ 5 U 205/00g:

Gemäß § 454 erster Satz StPO ist der Beschuldigte, falls er nicht verhaftet ist und sich auch nicht unter den in § 451 Abs 3 StPO genannten Umständen bei Gericht befindet, zur Hauptverhandlung durch einen schriftlichen Befehl - wenn es im Interesse der Erforschung der Wahrheit nötig befunden wird, mit der Aufforderung zum persönlichen Erscheinen (§ 455 Abs 2 StPO) - vorzuladen. Die Vorladung ist so einzurichten, dass dem Beschuldigten, sofern er nicht selbst einer Abkürzung zustimmt, ab der Zustellung eine Frist von wenigstens drei Tagen zur Vorbereitung seiner Verteidigung bleibt (§ 455 Abs 1 StPO). Wenn der Beschuldigte der gehörigen Vorladung ungeachtet nicht erscheint, kann der Richter, sofern er die Vernehmung des Beschuldigten nötig findet, ihn zum persönlichen Erscheinen auffordern, oder, wenn das bereits geschehen ist, vorführen lassen (§ 459 erster Satz StPO).

Nach § 175 Abs 1 Z 2 StPO kann der Richter den Beschuldigten, der sich verborgen hält, auch ohne vorherige Vorladung vorführen lassen. Nach § 451 Abs 3 StPO kann er ausnahmsweise - ohne Einhaltung einer Vorbereitungsfrist - im Fall der Vorführung des Beschuldigten sofort verhandeln, wenn der Beschuldigte geständig ist und der sofortigen Hauptverhandlung zustimmt. Jedenfalls wäre er aber auch in diesem Fall iSd § 454 letzter Satz StPO über sein Recht, einen Verteidiger beizuziehen, und über die Voraussetzungen der Beigebung eines Verteidigers nach § 41 Abs 2 StPO zu belehren.

All dies war freilich nicht der Fall. Vielmehr war zum einen dem Gericht der (im Vorführbefehl genannte) Aufenthaltsort des Beschuldigten bekannt, sodass die Voraussetzungen des § 175 Abs 1 Z 2 StPO nicht vorlagen, zum anderen erfolgte nach dem Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls keine Zustimmung des Beschuldigten zur sofortigen Verhandlung (und im Übrigen keine Belehrung über die Verteidigerbeiziehung).

Zeugen sind zunächst gemäß § 221 Abs 1 letzter Satz StPO zur Hauptverhandlung vorzuladen. Gemäß § 242 Abs 1 StPO kann der Gerichtshof, wenn Zeugen, der an sie ergangenen Vorladung ungeachtet, bei der Hauptverhandlung nicht erscheinen, deren ungesäumte Vorführung verfügen. Die genannten Bestimmungen gelten gemäß § 447 StPO auch für das bezirksgerichtliche Verfahren.

Die Veranlassung der Vorführung sowohl des Beschuldigten als auch des Zeugen ohne vorangegangene Ladung verstieß gegen die genannten Bestimmungen.

Im Hinblick auf das Geständnis in beiden Instanzen, die Zurückziehung der Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld im Rechtsmittelverfahren und das Absehen von einer Zusatzstrafe waren diese Gesetzesverletzungen ohne konkrete Wirkung lediglich festzustellen.

2. Zum Verfahren AZ 5 U 292/01b:

2.1. Die Rechtsbelehrung zum Beschluss auf Abweisung des Protokollberichtigungsantrages widersprach § 481 StPO, wonach gegen Beschlüsse des Bezirksgerichtes die Beschwerde zulässig ist, soweit sie nicht nach einzelnen Gesetzesstellen ausgeschlossen ist. Daher kann im bezirksgerichtlichen Verfahren auch gegen die Abweisung eines Protokollberichtigungsantrages Beschwerde erhoben werden (Fabrizy StPO9 § 481 Rz 1 mwN).

2.2. Der Beschluss auf Ablehnung einer Protokollberichtigung verstieß in seiner Begründung gegen § 271 Abs 3 StPO. Nach dieser Bestimmung sind Aussagen von Zeugen im Hauptverhandlungsprotokoll unter anderem dann zu erwähnen, wenn sie Abweichungen, Veränderungen oder Zusätze der in den Akten niedergelegten Angaben enthalten. Die kursorische Begründung des Beschlusses nahm auf diese Vorschrift zwar dem Wortlaut nach Bezug. Sie brachte jedoch die Ansicht zum Ausdruck, dass die im Berichtigungsantrag behauptete detaillierte Schilderung, auf welche Weise der Zeuge bei Ablegung seiner früheren belastenden Aussage unter Druck gesetzt wurde, keine im Sinn des § 271 Abs 3 StPO erwähnungsbedürftige Aussage darstelle.

Eine solche Rechtsauffassung ist aus der Bestimmung nicht abzuleiten. Dem Berichtigungsantrag wäre der Erfolg zu versagen gewesen, wenn der Zeuge die im Antragsvorbringen behaupteten Angaben über die Begleitumstände der polizeilichen Einvernahme in der Hauptverhandlung nicht gemacht haben sollte. Auf die Frage, in welchem Umfang das Antragsvorbringen über den Aussageinhalt zutrifft, ging aber der Richter - der zudem den Vorwurf der Verweigerung der Aufnahme eines Ablehnungsantrags in das Protokoll völlig unbeachtet ließ (vgl aber § 271 Abs 1 StPO) - überhaupt nicht ein, was die Möglichkeit eines Nachteils für den Beschuldigten bedeutete.

2.3. Bei der Entscheidung über den Ablehnungsantrag ließ der Vorsteher des Bezirksgerichtes die der Verweigerung der Protokollberichtigung zu Grunde liegende Auffassung des Verhandlungsrichters über die Protokollierung einer wenigstens abstrakt zur Entlastung des Beschuldigten geeigneten Aussage außer Betracht. Er stützte sich nur auf die jede Befangenheit in Abrede stellenden Äußerungen des Richters, auch auf jene zum Vorbringen eines früheren Ablehnungsgesuches. Der Gerichtsvorsteher verabsäumte es jedoch, die Stichhaltigkeit der Stellungnahme an Hand der Aktenlage zu überprüfen.

Da es bei Entscheidung über die Ablehnung eines Richters nicht nur darauf ankommt, ob dieser selbst sich befangen fühlt oder nicht, sondern grundsätzlich schon der äußere Anschein einer Befangenheit genügt, sofern dafür zureichende Anhaltspunkte gegeben sind, welche die Eignung besitzen, aus objektiver Sicht die volle Unbefangenheit des Richters in Zweifel zu ziehen, wäre seine Vorgangsweise unter Berücksichtigung der aktenkundigen Umstände - und nicht allein der Stellungnahme des abgelehnten Richters - zu bewerten gewesen. Stellt auch die Annahme oder Verneinung einer Befangenheit eine Ermessensentscheidung dar, ist diese doch einer Bekämpfung im Weg des § 33 Abs 2 StPO zugänglich, wenn sie (wie im vorliegenden Fall) auf einer unrichtigen Rechtsansicht - hier: über die alleinige Bedeutung der Stellungnahme des Abgelehnten - beruht, auf Grund der eine Überprüfung des Antragsvorbringens unter Heranziehung der Aktenlage unterlassen wurde (Mayerhofer StPO4 § 292 E 7, 8a, 9a) und das Gericht somit von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat (Markel, WK-StPO § 1 Rz 43). Die Entscheidung vom 10. Februar 2003 war daher aufzuheben und dem Vorsteher des Bezirksgerichtes Villach aufzutragen, nach eingehender Prüfung an Hand der Aktenlage neuerlich über den Ablehnungsantrag (ON 17) zu entscheiden. Dabei wird auch die Gesetzesverletzung zum Nachteil des Beschuldigten im Verfahren 5 U 205/00 zu berücksichtigen und darauf Bedacht zu nehmen sein, dass es im Verfahren 5 U 292/01b zur kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Daniela Z***** nach § 162a StPO kam, ohne dem Beschuldigten, den der Richter sogar wegschickte, ein Fragerecht einzuräumen (ON 11), obwohl § 162a StPO das Fragerecht des Beschuldigten und (nicht: oder) seines Vertreters vorsieht und die Hauptverhandlung vom 10. September 2002 in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführt wurde, obwohl die Voraussetzungen des § 459 StPO mangels Ladung des Beschuldigten zu dieser Hauptverhandlung nicht vorlagen.

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