OGH 4Ob135/03m

OGH4Ob135/03m24.6.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Griß und Dr. Schenk, sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach Dr. Dietrich R*****, vertreten durch die C***** AG, *****, diese vertreten durch Dr. Roland Kassowitz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei E***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. László Szabó, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 70.806,52 EUR sA und Räumung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 25. März 2003, GZ 41 R 320/02s-19, mit dem die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt vom 23. September 2002, GZ 4 C 476/02s-12, zurückgewiesen wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die Entscheidung über die Berufung der beklagten Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Der Erstrichter verkündete in Anwesenheit beider Parteien(-vertreter) in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 23. 9. 2002 das der Klage stattgebende Urteil samt Kostenentscheidung und (im Verhandlungsprotokoll ON 11 S 4-8 = AS 35-43) ausführlich dargelegten Entscheidungsgründen. Die Parteien, welche jeweils Protokollabschriften wünschten, gaben keine (Rechtsmittel-)Erklärungen ab. Das in der "protokollierten Fassung" ausgefertigte Urteil und Protokollabschriften wurden den Parteien(-vertretern) am 16. 10. 2002 zugestellt. Die beklagte Partei erhob gegen dieses Urteil am 13. 11. 2002 (Datum der Postaufgabe) - sohin innerhalb der Frist des § 464 Abs 1 ZPO - Berufung, ohne zuvor iSd § 461 Abs 2 ZPO eine Berufungsanmeldung (binnen 14 Tagen ab Zustellung der Protokollabschrift) vorgenommen zu haben.

Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung zurück. Die fristgerechte Anmeldung der Berufung iSd § 461 Abs 2 ZPO gegen ein mündlich verkündetes Urteil sei Zulässigkeitsvoraussetzung. Vor Anmeldung der Berufung sei diese unzulässig. Nun sei zwar der vorliegende Fall dadurch gekennzeichnet, dass der Erstrichter nicht etwa zunächst nur das Protokoll über die Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung, in der das Urteil mündlich verkündet wurde, zugestellt habe, vielmehr habe er Protokoll und Urteil gleichzeitig zugestellt. Hier könnte fraglich sein, ob auch in einem solchen Fall eine vorangehende Anmeldung der Berufung deren Zulässigkeitsvoraussetzung sei, weil dann, wenn das Urteil schon ausgefertigt worden sei, ein Vorgehen nach § 417a ZPO (gekürzte Urteilsausfertigung) nicht mehr möglich sei. Der Oberste Gerichtshof habe in der Entscheidung 8 Ob 591/93 die Auffassung vertreten, wenn den Parteien schon eine ungekürzte Ausfertigung des Urteils zugestellt wurde, sei die im Gesetz normierte befristete Berufungsanmeldung sinnlos geworden; sie dürfe daher von den Parteien nicht mehr verlangt werden, vielmehr beginne mit der Zustellung der verkündeten Entscheidung die eigentliche Berufungsfrist zu laufen, ohne das noch eine Berufungsanmeldung zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung wäre. Dieser Auffassung könne das Berufungsgericht nicht folgen: Der Gesetzeswortlaut des § 461 Abs 2 ZPO sei eindeutig. Auch in einem Fall wie dem vorliegenden sei die Berufungsanmeldung Zulässigkeitserfordernis. Zwar könne der ratio legis auch gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut Durchsetzung verschafft werden, nämlich durch die teleologische Reduktion der Bestimmung. Dafür sei aber Voraussetzung, dass eine konkrete Fallgruppe vom Zweck des Gesetzes nicht erfasst werde und sich von den eigentlich gemeinten Fallgruppen (auf die das Gesetz "zugeschnitten" sei) soweit unterscheide, dass eine Gleichbehandlung sachlich nicht gerechtfertigt wäre. Es möge zutreffen, dass der maßgebliche Zweck der durch die WGN 1989 geschaffenen Voraussetzung der Anmeldung der Berufung für deren Zulässigkeit ein erwarteter arbeitseinsparender Effekt war, nämlich die Ermöglichung von gekürzten Urteilsausfertigungen iSd § 417a ZPO. Gerade der vorliegende Sachverhalt zeige aber, dass eine gekürzte Urteilsausfertigung nicht notwendiger Weise Arbeitsersparnis bringen müsse: das ausgefertigte Urteil des Erstgerichtes habe praktisch Wort für Wort denselben Inhalt wie das in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 23. 9. 2002 samt Entscheidungsgründen verkündete Urteil. Eine Arbeitsersparnis könne mit der Herstellung einer gekürzten Urteilsausfertigung schon deshalb nicht verbunden sein, weil die Ausfertigung des "vollen Urteils" nur den neuerlichen Ausdruck aus dem bereits gespeicherten Protokoll erforderte. Sei auch im Regelfall die Erstellung einer gekürzten Urteilsausfertigung mit einem verminderten Arbeitsaufwand verbunden, so gelte das in einem Fall wie dem vorliegenden nicht. Fraglich sei indessen ohnehin, ob der einzige Zweck der Notwendigkeit der Berufungsanmeldung die allfällige Ermöglichung von gekürzten Urteilsausfertigungen sei: Wenn bei mündlich verkündeten Urteilen die rechtzeitige Anmeldung der Berufung Zulässigkeitserfordernis sei, so werde davon im Ergebnis auch die Rechtskraft des Urteils berührt. Die Frage aber, ob ein Urteil rechtskräftig (geworden) sei, sollte eindeutig beantwortet werden können; regelmäßig sei dies auch der Fall, weil nämlich nur der Rückschein über die Zustellung des Urteils (gemeint wohl: des Protokolls) und die seither verstrichene Zeit zu beachten seien. Bei Zustellung einer "ungekürzten Ausfertigung" des Urteils vom Erfordernis einer rechtzeitigen Anmeldung der Berufung abzusehen (8 Ob 591/93), liefe darauf hinaus, dass erst eine wertende Beurteilung, ob ein Urteil ein "gekürztes" oder ein "ungekürztes" sei, die Frage nach seiner Rechtskraft beantworte. Dies wäre dem Gebot der Rechtssicherheit hingegen abträglich. Vielmehr sollte - etwa in der dritten Woche nach Zustellung des Protokolls - klar sein, ob noch ein Rechtsmittel erhoben werden könne bzw ob eine zweiwöchige Leistungsfrist schon verstrichen sei. Nach Auffassung des Berufungsgerichts könne sohin die gleichzeitige Zustellung des "ungekürzten" Urteils und des Verhandlungsprotokolls nichts daran ändern, dass eine Anmeldung der Berufung Voraussetzung für deren Zulässigkeit sei.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen den zweitinstanzlichen Beschluss gerichtete und gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zulässige Rekurs der beklagten Partei ist berechtigt.

Gemäß § 461 Abs 2 ZPO kann gegen ein in Anwesenheit beider Parteien mündlich verkündetes Urteil (§ 414 ZPO) Berufung nur von einer Partei erhoben werden, die diese sofort nach der Verkündung des Urteils mündlich oder binnen vierzehn Tagen ab Zustellung der Protokollabschrift über jene Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung, in der das Urteil verkündet worden ist, in einem beim Erstgericht überreichten Schriftsatz oder unter der Voraussetzung des § 434 Abs 1 durch Erklärung zu gerichtlichem Protokoll angemeldet hat. Wird in dieser Frist ein Antrag iSd § 464 Abs 3 gestellt, so gilt er als Anmeldung der Berufung.

Zweck dieser zunächst mit der WGN 1989 (Art X Z 17 lit b - BGBl 1989/343) eingeführten und mit der WGN 1997 (Art VII Z 26 - BGBl I Nr 140/1997) in die derzeit geltende Fassung gebrachten Bestimmung sowie der gleichzeitig eingeführten bzw geänderten Bestimmung des § 417a ZPO (gekürzte Urteilsausfertigung) war (und ist es), eine Vereinfachung der Urteilsausfertigung für den Richter zu ermöglichen und dadurch insgesamt einen Beschleunigungseffekt zu erzielen (EB zur RV 888 BlgNR 17. GP 20 f; im Ergebnis auch EB zur RV 898 BlgNR 20. GP 42). Weder im Gesetz noch in den Materialien erwähnter weiterer Zweck dieser Bestimmung ist hingegen die frühere Herbeiführung der Rechtskraft der Sachentscheidung. Es widerspricht daher dem Zweck der genannten Bestimmungen, wenn der Richter den Parteien zugleich mit der Protokollabschrift auch schon das vollständig ausgefertigte Urteil zustellen lässt, statt erst nach dem Verhalten der Parteien entweder (im Falle der Berufungsanmeldung) eine der Anfechtung unterliegende ausführliche oder (im Fall des Unterbleibens einer Berufungsanmeldung) eine gekürzte Ausfertigung (§ 417a ZPO) des Urteils herzustellen. Für den Richter, der - wie im vorliegenden Fall - bereits bei der Verkündung des Urteils ausführlich alle Entscheidungsgründe anführt (und diese auch im Protokoll festhält) und den Parteien sodann die mit dem Protokollinhalt übereinstimmende Urteilsausfertigung samt Protokollabschrift gleichzeitig zustellt, entfällt der Entlastungseffekt dieser Bestimmungen zur Gänze. Sein Urteil stellt sich nach außen hin wie ein der schriftlichen Ausfertigung vorbehaltenes Urteil dar, wobei die Parteien nur den zusätzlichen Vorteil genossen haben, dessen Inhalt und Begründung (aufgrund der mündlichen Verkündung) bereits zu kennen. Den bereits das Urteil samt seinen - für den Richter unabänderlichen - Gründen in Händen haltenden Parteien, in wörtlicher Befolgung des § 461 Abs 2 ZPO (der freilich die gleichzeitige Zustellung des Urteils neben der Protokollabschrift nicht vorsieht) die Pflicht aufzuerlegen, die - in diesem Fall für das Gericht ohne jeden Zweck bleibende - Berufungsanmeldung vorzunehmen, wenn sie innerhalb der durch die Zustellung des Berufungsurteils ausgelösten Berufungsfrist von vier Wochen gegen das Urteil eine Berufung erheben will, entbehrt der Rechtfertigung.

Werden sohin Sinn und Zweck dieser Bestimmungen (§§ 461 Abs 2, 417a ZPO) richtig beurteilt, so ist § 461 Abs 2 ZPO einschränkend so auszulegen, dass es im Fall der gleichzeitigen Zustellung des (mündlich verkündeten und bereits ausgefertigten) Urteils und der Protokollabschrift jener Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung, in der das Urteil verkündet wurde, einer Berufungsanmeldung nicht bedarf, sondern binnen der gesetzlichen Frist (§ 464 Abs 1 ZPO) ab Urteilszustellung Berufung erhoben werden kann. Bei Geltung dieses Rechtsstandpunktes können weder für die Parteien noch für das Gericht Zweifel über die (Teil-)Rechtskraft eines solchen Urteils aufkommen (wie im Übrigen das Verhalten des Erstgerichts und der klagenden Partei im Anlassfall belegen), weil die Urteilsrechtskraft eben erst nach ungenütztem Verstreichen der Berufungsfrist eintritt. Damit folgt der erkennende Senat im Ergebnis der Entscheidung 8 Ob 591/93, in der ebenfalls die Rechtsauffassung vertreten wurde, einer Anmeldung der Berufung gegen ein bereits beiden Parteien zugestelltes Urteil bedürfe es als Voraussetzung für deren Statthaftigkeit oder auch zur Abwehr des Eintritts der Rechtskraft nicht.

In Stattgebung des Rekurses war daher der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Berufungsgericht die sachliche Behandlung der Berufung aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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