Spruch:
Das Gesetz wurde verletzt durch
die Durchführung der Hauptverhandlung am 3. Mai 2002 in Abwesenheit des Beschuldigten in der Bestimmung des § 491 StPO iVm § 427 Abs 1 StPO;
die Fällung des Abwesenheitsurteiles vom 3. Mai 2002 (ON 60), soweit sie die von der Anklageausdehnung am selben Tag und die vom schriftlichen Strafantrag umfassten Fakten betrifft, in dem in §§ 484 Abs 4, 488 Z 1 StPO iVm § 221 StPO und § 491 iVm § 427 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 MRK); die Unterlassung der Zustellung des Abwesenheitsurteiles vom 3. Mai 2002 (ON 60) zu eigenen Handen des Beschuldigten in den Bestimmungen der §§ 491, 427 Abs 1 letzter SatzStPO iVm § 79 Abs 4 zweiter Satz StPO;
die Ausfertigung des Urteils in gekürzter Form in den Bestimmungen der §§ 488 Z 7, 458 Abs 2 und 3 StPO.
Gemäß § 292 letzter Satz StPO werden das Abwesenheitsurteil des Landesgerichtes Wien vom 3. Mai 2002, GZ 64 E Hv 3491/01x-60, das im Übrigen unberührt bleibt, in dem Andreas B***** betreffenden Schuld- und Strafausspruch und sämtliche darauf beruhenden Verfügungen aufgehoben, und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien insoweit die Erneuerung des Verfahrens aufgetragen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Wien erhob am 16. Juli 2001 zum AZ 64 E Hv 3491/01x des Landesgerichtes für Strafsachen Wien (ua) gegen Andreas B***** Strafantrag wegen der Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB und der Hehlerei nach § 164 Abs 2, 3 und 4 zweiter Fall StGB (ON 29). Die Hauptverhandlung am 8. Jänner 2002, in welcher der Einzelrichter Andreas B***** auch zu den in den einbezogenen (S 283, 387) Nachtragsanzeigen (ON 31 und 32) enthaltenen - von der Anklagebehörde allerdings noch nicht inkriminierten - Fakten vernahm (S 477 bis 483), wurde zur Aufnahme weiterer Beweise vertagt (S 485). Die gemäß § 276a zweiter Satz StPO wegen Zeitablaufes am 3. Mai 2002 neu durchgeführte Hauptverhandlung fand in Abwesenheit des - nach der Aktenlage durch Hinterlegung ordnungsgemäß geladenen (S 492) - Beschuldigten B***** statt (S 511). Erst in dieser Verhandlung dehnte der Sitzungsvertreter den Strafantrag wegen der von der Staatsanwaltschaft als Vergehen der Hehlerei nach § 164 Abs 2 StGB, des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs 1, 269 Abs 1 StGB und der Körperverletzung nach §§ 83 Abs l, 84 Abs 2 Z 4 StGB beurteilten Taten der bezeichneten Nachtragsanzeigen (ON 31 und 32) aus (S 495 und 527 f).
Mit dem in gekürzter Form ausgefertigten Abwesenheitsurteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 3. Mai 2002, GZ 64 E Hv 3491/01x-60, das auch in Rechtskraft erwachsene Teilfreisprüche von den im schriftlichen Strafantrag inkriminierten Fakten enthält, wurde Andreas B***** in Ansehung der mündlich ausgedehnten Anklage der Vergehen (A) der - im Spruch (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) offenbar versehentlich als "gewerbsmäßig" verübt beschriebenen - Hehlerei nach § 164 Abs 2 StGB, (B) des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs l, 269 Abs 1 StGB und (C) der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs l, 84 Abs 2 Z 2 StGB schuldig erkannt und zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die anwesende Verteidigerin verzichtete auf Rechtsmittel (S 531). Die Zustellung einer Urteilsausfertigung an den Beschuldigten unterblieb nach der Aktenlage.
Rechtliche Beurteilung
Die Vorgangsweise des Einzelrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Wien steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt - in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:
1. Die Durchführung der Hauptverhandlung am 3. Mai 2002 in Abwesenheit des Beschuldigten widerspricht der gemäß § 491 StPO im Verfahren vor dem Einzelrichter sinngemäß anzuwendenden Bestimmung des § 427 Abs 1 StPO. Ein solches Vorgehen ist unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen bei sonstiger Nichtigkeit nur dann zulässig wenn der Anklagevorwurf ein Vergehen betrifft. Vorliegend wurde aber gegen Andreas B***** (auch) wegen der im schriftlichen Strafantrag (ON 29) inkriminierten Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB und der Hehlerei nach § 164 Abs 2, 3 und 4 zweiter Fall StGB verhandelt.
2. Die Ausdehnung der Verhandlung und Urteilsfällung auf die von der Staatsanwaltschaft gemäß § 263 Abs 1 StPO in dieser Hauptverhandlung gegen Andreas B***** neu erhobenen Vorwürfe war ungeachtet seiner vorausgegangenen gerichtlichen Einvernahme (Mayerhofer StPO4 § 427 E 17) unzulässig, weil der - laut richterlicher Verfügung nur zu den Fakten des (schriftlichen) Strafantrages geladene (S 492) - Beschuldigte im Verfahren keine Gelegenheit hatte, zum erweiterten, von ihm in Abrede gestellten (vgl S 477 ff) Anklagevorwurf persönlich Stellung zu nehmen und sich in diesem Zusammenhang die zu seiner Verteidigung dienenden Beweismittel zu verschaffen (EvBl 1996/6; EvBl 1999/153; 15 Os 103,109/00). Durch das die Anklageausdehnung betreffende Verfahren und das darüber ergangene (schuldigsprechende) Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde daher der in § 427 StPO zum Ausdruck kommende Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK verletzt (EvBl 1999/153).
3. Dem in Abwesenheit Verurteilten muss - unabhängig von einer Rechtsmittelerklärung (und -ausführung) seines Verteidigers - die nur mittels Zustellung des Abwesenheitsurteiles zu seinen eigenen Handen gesicherte Möglichkeit eines Einspruches offen stehen, um allenfalls vorbringen zu können, dass ihm die Vorladung zur Hauptverhandlung nicht gehörig zugestellt oder dass er von der Teilnahme an der Hauptverhandlung durch ein unabwendbares Hindernis abgehalten wurde (15 Os 103, 109/00 mwN). Das Unterbleiben der Zustellung einer Urteilsausfertigung an den Beschuldigten verstößt daher gegen § 427 Abs 1 letzter Satz iVm § 79 Abs 4 zweiter Satz StPO.
4. Die Ausfertigung eines (schuldigsprechenden) Abwesenheitsurteiles in gekürzter Form gemäß §§ 488 Z 7, 458 Abs 2 und 3 StPO kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil hiefür dessen - vor Zustellung an den (abwesenden) Beschuldigten jedoch niemals eintretende - Rechtskraft Voraussetzung wäre (Mayerhofer aaO § 458 E 8).
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt haben, war spruchgemäß zu entscheiden.
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